Sind China-Autos vertretbar?

Automobil Revue | 16.11.2023

Ansichtssache Mit dem anstehenden Markteintritt diverser neuer Hersteller aus China 
stellt sich vielen die Frage, ob man ein chinesisches Auto überhaupt kaufen soll.

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Neue Auswahl: Immer mehr Modelle aus China sind verfügbar, darunter der kürzlich getestete Voyah Free (AR 43/2023). Nicht alle können sich vorstellen, ein Auto aus dem Reich der Mitte zu kaufen.

Foto: Vesa Eskola

Ein eher überschaubarer Einhaltungsgrad der Menschenrechte, die totale Volksüberwachung und auch noch etwas Spionage. China steht in der Wahrnehmung mancher Westeuropäer nicht gerade als Vorzeigestaat da. Wie viel oder wenig an all den Vorwürfen dran ist, soll hier nicht thematisiert werden, sondern mehr das persönliche Empfinden potenzieller Schweizer Käufer. Denn moralisch scheint es nicht so richtig vertretbar, sich gezielt für ein Produkt aus China zu entscheiden, ganz besonders dann nicht, wenn es um ein Automobil geht. Während in vielen anderen Bereichen die China-Frage nicht wirklich gestellt werden kann, weil ohnehin alles von dort kommt, ist das nicht-chinesische Autoangebot schliesslich riesig.

Neben generellen Vorbehalten gegenüber dem Herkunftsland wird zuweilen der Support der regionalen Autoindustrie thematisiert. Ob wir in der Schweiz für das Wohlergehen europäischer Hersteller verantwortlich sind, darf sicher infrage gestellt werden. Doch ob das ausgegebene Geld beispielsweise in Deutschland oder Italien oder eben weit weg in China landet, mag für den einen oder anderen entscheidend sein. Die Meinungen gehen auch innerhalb der AR-Redaktion weit auseinander. 

Pro

Es braucht die Veränderung

Klaus Justen, Redaktor

Als Tesla vor etwas mehr als zehn Jahren antrat, wurden die Amerikaner von der restlichen Autoindustrie belächelt. Doch es kam anders, Tesla machte das E-Auto innert kurzer Zeit salonfähig und löste so ein Erdbeben in der Branche aus, dessen Nachwirkungen noch nicht absehbar sind. Doch die Amerikaner veränderten noch viel mehr, das Innenraumdesign, ganz allgemein den Umgang mit Software, aber auch die Produktionsabläufe.

In diesem Jahr wird erstmals ein einheimischer Hersteller die etablierte Konkurrenz in China überflügeln, BYD wird die meistverkaufte Marke werden im Reich der Mitte, dem mit Abstand grössten Markt der Welt. Auch die chinesischen Hersteller wurden noch vor wenigen Jahren wie einst Tesla belächelt, man traute ihnen nicht zu, dass sie je auf das Niveau der bekannten Produzenten in Europa, den USA, Japan und Korea kommen könnten. Doch jetzt sind sie da, noch nicht so stark in Mitteleuropa, doch auf ihrem Heimmarkt sind Geely, Chery, BYD und Co. in Führung gegangen.

Das mag auch daran liegen, dass diese Hersteller in ihrer Heimat Vorteile haben und ihre Produktionskosten tiefer sind. Die Arbeitsbedingungen entsprechen wahrscheinlich nicht mitteleuropäischen Standards. Doch das gilt ja auch für alle anderen chinesischen Produkte, die längst nicht mehr aus unserem Alltag wegzudenken sind. Und man kann nicht das eine mit Handkuss nehmen, das andere aber verdammen. Zumal viele europäische Autohersteller ihre Fahrzeuge ebenfalls in China bauen lassen.

Doch vor allem legen die chinesischen Autohersteller ein Entwicklungstempo vor, das gerade die Elektromobilität noch stärker verändern wird als einst Tesla. Und das ist wichtig, denn damit beschleunigen sie die politisch so stark ersehnte Energiewende. Selbstverständlich muss man auch da wieder Fragen zur wahrhaften Nachhaltigkeit stellen, doch es macht den Eindruck, dass gerade Hersteller wie Geely und BYD sich selbst sehr hohe Standards auferlegt haben, dass die grossen Batteriehersteller wie Catl alles sehr sauber und richtig machen und den Vergleich mit anderen Weltregionen nicht scheuen müssen.

Und auch in der Akkutechnologie sind die Chinesen längst führend. Mit horrender Geschwindigkeit verbessern sie die Energiedichte ihrer Batterien, entwickeln umweltfreundlichere und deutlich günstigere Akkumulatoren, krempeln die Produktionsmethoden um. Davon profitieren am Schluss die Kunden, sie erhalten Fahrzeuge mit mehr Reichweite, weniger Gewicht, längerer Garantie. Mittelfristig betrachtet, werden die E-Autos auch immer günstiger. Und das nicht etwa deshalb, weil sie aus China kommen, sondern weil die Chinesen die entscheidenden Technologien entwickeln, die tiefere Preise möglich machen werden.

Vorerst ist es gerade in Europa noch verfrüht, sich vor den chinesischen Autoherstellern zu fürchten. Zwar treten sie vermehrt in Erscheinung, doch längst nicht so aggressiv wie einst Tesla. Das haben BYD, Geely oder Nio gar nicht nötig, das Geld verdienen sie in ihrem riesigen Heimmarkt. Das bedeutet aber nicht, dass man sie nicht ganz genau beobachten sollte. Was man bei Tesla vor mehr als zehn Jahren besser auch getan hätte.

Kontra

Ein Auto made in China? Nicht für mich!

Olivier Derard, Redaktor

Die Objektivität, die der Beruf des Journalisten erfordert, zwingt mich zwar dazu, das hervorragende Preis-Leistungs-Verhältnis der sich derzeit auf dem Markt befindlichen chinesischen Fahrzeuge anzuerkennen, aber es gibt auch Argumente, die gegen ihren Kauf sprechen.

Mein erster Einwand ist in erster Linie wirtschaftlicher Natur. Meiner Meinung nach bedeutet der Kauf eines chinesischen Fahrzeugs, die Deindustrialisierung Europas und damit dessen wirtschaftlichen Niedergang zu beschleunigen. Einige Autofahrer denken vielleicht, dass sie der Schweizer Industrie nicht schadeten, wenn sie chinesische Autos kaufen, da es in der Schweiz keine Autohersteller oder -fabriken gibt. Aber das stimmt nicht. In der Schweiz gibt es Dutzende spezialisierter oder sogar hoch spezialisierter Zulieferer und Zehntausende Arbeitnehmer, deren Arbeitsplätze direkt oder indirekt vom Wohlergehen der europäischen Automobilhersteller abhängen. In der Schweiz sei die Automobilindustrie so wichtig wie die Uhrenindustrie, hört man oft in der Branche. Wenn man also in Europa kauft, schafft man Schweizer Arbeitsplätze. Und selbst wenn dieses Argument nicht überzeugend genug wäre, braucht man nur einen Atlas aufzuschlagen, um festzustellen, dass die Schweiz ein Interesse daran hat, dass es ihren Nachbarn Italien, Frankreich und Deutschland gutgeht, wenn sie selbst gesund bleiben will. Selbst die Europäische Kommission, deren Handlungen oft gegen das Automobil gerichtet zu sein scheinen, beginnt sich der Gefahr bewusst zu werden, die ein Niedergang der Branche mit sich brächte. Endlich! Aus diesem Grund, aber auch wegen des Verdachts auf chinesisches Preisdumping, erwägt sie, Zölle auf aus China importierte Elektrofahrzeuge zu erheben. Die Zeit der Reindustrialisierung ist für Europa gekommen – in China einzukaufen, begünstigt sie nicht.

Natürlich kann man jetzt einwenden, dass der Autofahrer, egal ob Europäer oder Schweizer, der koreanisch, amerikanisch oder japanisch kauft, der europäischen Industrie damit auch nicht hilft. Das stimmt (auch wenn die meisten dieser Marken Niederlassungen und Tochtergesellschaften auf dem Alten Kontinent haben). Allerdings wird keines dieser Länder von einer kommunistischen Partei regiert, in der der Begriff der Wahl konzeptionell bleibt, wie es in China der Fall ist. Dies führt de facto zum zweiten Argument gegen einen chinesischen Autokauf, das natürlich politischer Natur ist. Angesichts der Fragilität der gegenwärtig herrschenden Weltordnung erscheint es mir sinnlos, Peking eine (zusätzliche) industrielle Stärke zu verleihen, und sogar gefährlich, Europa seiner (letzten) Montagewerke zu berauben.

Das dritte Argument ist in gewisser Weise mit dem zweiten verbunden, allerdings mit einem zusätzlichen Sicherheitsaspekt. In einer Automobilwelt, in der Autos immer stärker vernetzt sind, GPS-Sensoren, eine SIM-Karte und sogar Kameras besitzen, möchte ich niemals ein Fahrzeug besitzen, das meine kleinsten Handlungen und Gesten an eine Regierung wie die von China weitergeben kann. Das Beispiel des chinesischen Smartphone-Herstellers Huawei, der beschuldigt wird, für die chinesische Regierung zu spionieren, beweist, dass die Chinesen solche Praktiken tatsächlich anwenden könnten.

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