Ansichtssache Mit dem anstehenden Markteintritt diverser neuer Hersteller aus China stellt sich vielen die Frage, ob man ein chinesisches Auto überhaupt kaufen soll.
Neue Auswahl: Immer mehr Modelle aus China sind verfügbar, darunter der kürzlich getestete Voyah Free (AR 43/2023). Nicht alle können sich vorstellen, ein Auto aus dem Reich der Mitte zu kaufen.
Foto: Vesa Eskola
Ein eher überschaubarer Einhaltungsgrad der Menschenrechte, die totale Volksüberwachung und auch noch etwas Spionage. China steht in der Wahrnehmung mancher Westeuropäer nicht gerade als Vorzeigestaat da. Wie viel oder wenig an all den Vorwürfen dran ist, soll hier nicht thematisiert werden, sondern mehr das persönliche Empfinden potenzieller Schweizer Käufer. Denn moralisch scheint es nicht so richtig vertretbar, sich gezielt für ein Produkt aus China zu entscheiden, ganz besonders dann nicht, wenn es um ein Automobil geht. Während in vielen anderen Bereichen die China-Frage nicht wirklich gestellt werden kann, weil ohnehin alles von dort kommt, ist das nicht-chinesische Autoangebot schliesslich riesig.
Neben generellen Vorbehalten gegenüber dem Herkunftsland wird zuweilen der Support der regionalen Autoindustrie thematisiert. Ob wir in der Schweiz für das Wohlergehen europäischer Hersteller verantwortlich sind, darf sicher infrage gestellt werden. Doch ob das ausgegebene Geld beispielsweise in Deutschland oder Italien oder eben weit weg in China landet, mag für den einen oder anderen entscheidend sein. Die Meinungen gehen auch innerhalb der AR-Redaktion weit auseinander.
Pro
Es braucht die Veränderung
Klaus Justen, Redaktor
Als Tesla vor etwas mehr als zehn Jahren antrat,
wurden die Amerikaner von der restlichen Autoindustrie belächelt. Doch
es kam anders, Tesla machte das E-Auto innert kurzer Zeit salonfähig und
löste so ein Erdbeben in der Branche aus, dessen Nachwirkungen noch
nicht absehbar sind. Doch die Amerikaner veränderten noch viel mehr, das
Innenraumdesign, ganz allgemein den Umgang mit Software, aber auch die
Produktionsabläufe.
In diesem Jahr wird erstmals ein einheimischer
Hersteller die etablierte Konkurrenz in China überflügeln, BYD wird die
meistverkaufte Marke werden im Reich der Mitte, dem mit Abstand grössten
Markt der Welt. Auch die chinesischen Hersteller wurden noch vor
wenigen Jahren wie einst Tesla belächelt, man traute ihnen nicht zu,
dass sie je auf das Niveau der bekannten Produzenten in Europa, den USA,
Japan und Korea kommen könnten. Doch jetzt sind sie da, noch nicht so
stark in Mitteleuropa, doch auf ihrem Heimmarkt sind Geely, Chery, BYD
und Co. in Führung gegangen.
Das mag auch daran liegen, dass diese Hersteller in
ihrer Heimat Vorteile haben und ihre Produktionskosten tiefer sind. Die
Arbeitsbedingungen entsprechen wahrscheinlich nicht mitteleuropäischen
Standards. Doch das gilt ja auch für alle anderen chinesischen Produkte,
die längst nicht mehr aus unserem Alltag wegzudenken sind. Und man kann
nicht das eine mit Handkuss nehmen, das andere aber verdammen. Zumal
viele europäische Autohersteller ihre Fahrzeuge ebenfalls in China bauen
lassen.
Doch vor allem legen die chinesischen Autohersteller
ein Entwicklungstempo vor, das gerade die Elektromobilität noch stärker
verändern wird als einst Tesla. Und das ist wichtig, denn damit
beschleunigen sie die politisch so stark ersehnte Energiewende.
Selbstverständlich muss man auch da wieder Fragen zur wahrhaften
Nachhaltigkeit stellen, doch es macht den Eindruck, dass gerade
Hersteller wie Geely und BYD sich selbst sehr hohe Standards auferlegt
haben, dass die grossen Batteriehersteller wie Catl alles sehr sauber
und richtig machen und den Vergleich mit anderen Weltregionen nicht
scheuen müssen.
Und auch in der Akkutechnologie sind die Chinesen
längst führend. Mit horrender Geschwindigkeit verbessern sie die
Energiedichte ihrer Batterien, entwickeln umweltfreundlichere und
deutlich günstigere Akkumulatoren, krempeln die Produktionsmethoden um.
Davon profitieren am Schluss die Kunden, sie erhalten Fahrzeuge mit mehr
Reichweite, weniger Gewicht, längerer Garantie. Mittelfristig
betrachtet, werden die E-Autos auch immer günstiger. Und das nicht etwa
deshalb, weil sie aus China kommen, sondern weil die Chinesen die
entscheidenden Technologien entwickeln, die tiefere Preise möglich
machen werden.
Vorerst ist es gerade in Europa noch verfrüht, sich
vor den chinesischen Autoherstellern zu fürchten. Zwar treten sie
vermehrt in Erscheinung, doch längst nicht so aggressiv wie einst Tesla.
Das haben BYD, Geely oder Nio gar nicht nötig, das Geld verdienen sie
in ihrem riesigen Heimmarkt. Das bedeutet aber nicht, dass man sie nicht
ganz genau beobachten sollte. Was man bei Tesla vor mehr als zehn
Jahren besser auch getan hätte.
Kontra
Ein Auto made in China? Nicht für mich!
Olivier Derard, Redaktor
Die Objektivität, die der Beruf des Journalisten
erfordert, zwingt mich zwar dazu, das hervorragende
Preis-Leistungs-Verhältnis der sich derzeit auf dem Markt befindlichen
chinesischen Fahrzeuge anzuerkennen, aber es gibt auch Argumente, die
gegen ihren Kauf sprechen.
Mein erster Einwand ist in erster Linie
wirtschaftlicher Natur. Meiner Meinung nach bedeutet der Kauf eines
chinesischen Fahrzeugs, die Deindustrialisierung Europas und damit
dessen wirtschaftlichen Niedergang zu beschleunigen. Einige Autofahrer
denken vielleicht, dass sie der Schweizer Industrie nicht schadeten,
wenn sie chinesische Autos kaufen, da es in der Schweiz keine
Autohersteller oder -fabriken gibt. Aber das stimmt nicht. In der
Schweiz gibt es Dutzende spezialisierter oder sogar hoch spezialisierter
Zulieferer und Zehntausende Arbeitnehmer, deren Arbeitsplätze direkt
oder indirekt vom Wohlergehen der europäischen Automobilhersteller
abhängen. In der Schweiz sei die Automobilindustrie so wichtig wie die
Uhrenindustrie, hört man oft in der Branche. Wenn man also in Europa
kauft, schafft man Schweizer Arbeitsplätze. Und selbst wenn dieses
Argument nicht überzeugend genug wäre, braucht man nur einen Atlas
aufzuschlagen, um festzustellen, dass die Schweiz ein Interesse daran
hat, dass es ihren Nachbarn Italien, Frankreich und Deutschland gutgeht,
wenn sie selbst gesund bleiben will. Selbst die Europäische Kommission,
deren Handlungen oft gegen das Automobil gerichtet zu sein scheinen,
beginnt sich der Gefahr bewusst zu werden, die ein Niedergang der
Branche mit sich brächte. Endlich! Aus diesem Grund, aber auch wegen des
Verdachts auf chinesisches Preisdumping, erwägt sie, Zölle auf aus
China importierte Elektrofahrzeuge zu erheben. Die Zeit der
Reindustrialisierung ist für Europa gekommen – in China einzukaufen,
begünstigt sie nicht.
Natürlich kann man jetzt einwenden, dass der
Autofahrer, egal ob Europäer oder Schweizer, der koreanisch,
amerikanisch oder japanisch kauft, der europäischen Industrie damit auch
nicht hilft. Das stimmt (auch wenn die meisten dieser Marken
Niederlassungen und Tochtergesellschaften auf dem Alten Kontinent
haben). Allerdings wird keines dieser Länder von einer kommunistischen
Partei regiert, in der der Begriff der Wahl konzeptionell bleibt, wie es
in China der Fall ist. Dies führt de facto zum zweiten Argument gegen
einen chinesischen Autokauf, das natürlich politischer Natur ist.
Angesichts der Fragilität der gegenwärtig herrschenden Weltordnung
erscheint es mir sinnlos, Peking eine (zusätzliche) industrielle Stärke
zu verleihen, und sogar gefährlich, Europa seiner (letzten) Montagewerke
zu berauben.
Das dritte Argument ist in gewisser Weise mit dem
zweiten verbunden, allerdings mit einem zusätzlichen Sicherheitsaspekt.
In einer Automobilwelt, in der Autos immer stärker vernetzt sind,
GPS-Sensoren, eine SIM-Karte und sogar Kameras besitzen, möchte ich
niemals ein Fahrzeug besitzen, das meine kleinsten Handlungen und Gesten
an eine Regierung wie die von China weitergeben kann. Das Beispiel des
chinesischen Smartphone-Herstellers Huawei, der beschuldigt wird, für
die chinesische Regierung zu spionieren, beweist, dass die Chinesen
solche Praktiken tatsächlich anwenden könnten.