Le-Mans-Sieger über Mythos und Wundermittel

Jean-Claude Schertenleib, Werner J. Haller | 13.06.2024

Le Mans Sébastien Buemi und Neel Jani sind Le-Mans-Sieger – und sie stehen auch dieses Wochenende am Start.

Le Mans Front

Zur grossen Historie der 24 Stunden von Le Mans (F) haben auch Schweizer Kapitel beigetragen. Nach Marcel Fässler (2011, 2012 und 2014 mit Audi) trugen sich Neel Jani (2016 mit Porsche) und Sébastien Buemi (2018–2020 und 2022 mit Toyota) in die Liste der Gesamtsieger ein. Jani und Buemi stehen auch diesen Samstag um 16 Uhr wieder am Start des Rennsportklassikers, zusammen mit vielen weiteren Schweizer Piloten und Teams.

Die AUTOMOBIL REVUE setzte sich mit den beiden letzten Schweizer Le-Mans-Siegern zusammen und stellte Sébastien Buemi (35) und Neel Jani (40) zwölf gleiche Fragen. Wie kamen Sie zum Langstreckensport? Wie stehen Sie eine Nacht durch? Wie fühlt es sich an als Le-Mans-Sieger? Wie stehen sie zur neuen, goldenen Langstreckensport-Ära mit den Hypercars? Sie gaben spannende Antworten. 

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Sébastien Buemi: Der Waadtländer ist viermaliger Le-Mans-Sieger, als Toyota-Werkspilot siegte er 2018, 2019, 2020 und 2022.

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«Man sollte das Glück in Le Mans nicht herausfordern»

Interview: Jean-Claude Schertenleib

AUTOMOBIL REVUE: War Ihnen das 24-Stunden-Rennen von Le Mans schon ein Begriff, als Sie noch Kart gefahren sind?

Sébastien Buemi: Meine Eltern waren Toyota-Händler. Toyota kehrte 2012 nach Le Mans zurück und führte das Feld an, bis es einen Reifenschaden gab, daran erinnere ich mich. Aber ich habe damals viel mehr die Formel 1 verfolgt.

Warum haben Sie sich dem Langstreckensport zugewendet?

Peugeot drängte um 2012 darauf, die Langstrecken-WM wieder zu einem starken Wettbewerb zu machen. Die Franzosen warfen aber schliesslich das Handtuch, zurück blieben Toyota und Audi. Ich kam bei Toyota unter, das Projekt reizte mich. Und dann war da noch Le Mans.

Wie fühlt es sich an, wenn man zum ersten Mal mit 350 km/h auf einer Nationalstrasse wie der Hunaudières fährt?

Wenn du in der Formel 1 gefahren bist, weisst du bereits, wie sich 350 km/h anfühlen. Beeindruckend ist dieses Tempo jedoch bei Nacht. Als ich mit dem Langstreckenrennsport anfing, waren die Scheinwerfer noch nicht so effektiv wie heute. Damals brauchte man ein Dutzend Runden, um nachts so schnell wie am Tag zu fahren, heute sind es zwei bis drei Runden.

Was ist für Sie das Besondere an den 24 Stunden von Le Mans?

Die Emotionen sind bei den 24 Stunden von Le Mans viel stärker als vergleichweise bei einem 6-Stunden-Rennen. Du gehst an deine Grenzen. auf einer Strecke, die sehr speziell ist, weil sie nicht ein permanter Rundkurs ist und du auch auf öffentlichen Strassen Rennen fährst.

Hat das 24-Stunden-Rennen von Le Mans etwas von einem Lotteriespiel, weil man sich die Strecke mit viel langsameren Autos teilen muss?

Ja, natürlich. Aber man sollte das Glück in Le Mans nicht herausfordern. Bei einem Überholmanöver musst du dich dem langsameren Konkurrenten vor dir anpassen. Wenn du mit Vollgas auf ihn draufhältst, in der Überzeugung, dass er dich im Rückspiegel gesehen hat, kann das ein böses Ende nehmen.

Das Energiemanagement wird immer wichtiger. Hat dieses Rennen nicht auch eine frustrierende Seite?

In der LMP1-Ära, jener vor der aktuellen mit den Hypercars, war das Energiemanagement viel strenger. Du musstest als Pilot sehr genau auf den Treibstoffverbrauch achten. Bei den Hypercars ist das Reifenmanagement sehr wichtig. Das Reifenmanagement kann heute den Unterschied zwischen Sieg und Niederlage ausmachen.

Was ist Ihr Geheimnis, um die Nacht durchzustehen? Es wurde oft von Wundermitteln gesprochen. Gibt es so etwas?

Es ist entscheidend, dass du in der Nacht gut siehst. Deshalb setzte ich meinen Helm, versehen mit einem dunklen Rauchglasvisier, schon 30 bis 40 Minuten vor meinem Einsatz auf. Wenn ich dann erst bei der Fahrt aus der Boxengasse das Visier kurz öffne, sieht es aus, als wäre es Tag. Ich schaue auch auf die Ernährung. Manchmal muss ich mich aber überwinden, etwas zu essen, weil der Stoffwechsel um zwei Uhr nachts nicht für die Nahrungsaufnahme bereit ist. Isst man aber nichts, ist man meist erledigt, platt. Ich esse deshalb oft Hühnerbrust, Nudeln oder Reis und Obstsalat.

Wenn man Le Mans gewinnt, realisiert man das sofort?

Du weisst, dass du gewonnen hast, aber du kannst dir noch nicht vorstellen, was du erreicht hast. Es ist ein tolles Gefühl, im Siegerauto durch die Boxengasse zu fahren und auf dem Podium zu stehen.

Die Langstrecken-WM erlebt eine neue Ära, die der Hypercars. Wie sehen Sie diese Ära?

Für den Langstreckensport ist dies eine unglaubliche Zeit. Jetzt müssen wir dafür sorgen, dass die Hersteller langfristig in der WM bleiben. Denn die Budgets sind nicht klein, auch wenn sie im Vergleich zu den Zeiten der LMP1 immer kleiner werden. Sieht man vom Le-Mans-Sieg von Ferrari im letzten Jahr ab, dauert es drei bis fünf Jahre, bis man auf einen Sieg hoffen kann. Das ist viel Zeit, in der man eine Menge Geld investieren kann.

Was ist für Sie und das Toyota-Werksteam bei den bevorstehend 24 Stunden möglich?

Ich hoffe, dass wir um den Sieg kämpfen werden, denn darauf haben wir hingearbeitet.

Stichwort Neel Jani ...

Ich kenne Neel schon sehr lange. Er ist ein sehr schneller Fahrer und für jedes Team ein Gewinn.

Wie sehen Sie das 24-Stunden-Rennen von Le Mans in den nächsten Jahren?

Es wird viel über Wasserstoff gesprochen, das ist natürlich interessant. Im Moment ist es noch schwierig, sich vorzustellen, was wirklich passieren wird und wie die technischen Vorschriften aussehen werden. Das Wichtigste ist, wie gesagt, dass sich so viele Hersteller wie möglich engagieren. 

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Neel Jani: Der Berner gewann 2016 in Le Mans, dieses Jahr startet er mit einem Proton-Porsche.

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«Du bist nicht länger Rennfahrer, du bist Le-Mans-Sieger»

Interview: Werner J. Haller

AUTOMOBIL REVUE: War Ihnen das 24-Stunden-Rennen von Le Mans schon ein Begriff, als Sie noch Kart gefahren sind?

Neel Jani: Le Mans habe ich erst später richtig wahrgenommen, und zwar 1999. Es war das Jahr, als Mark Webber in einem Mercedes CLR während des Warm-ups einen Überschlag machte und im Rennen auch Peter Dumbrecks Mercedes Unterluft bekam und abflog. Mercedes zog sich dann vom Rennen zurück.

Warum haben Sie sich dem Langstreckensport zugewendet?

Ich war im Formelrennsport zu Hause. Ich fuhr die Serie A1GP, wo ich 2007 den Titel gewann. Ich fuhr in den USA in der Champcarserie, die heute Indycarserie heisst. Die A1GP wurde eingestellt, in der Champcarserie wollte ich keine Ovalrennen fahren. Zudem war ich sporadisch Testfahrer in der Formel 1, ich wollte aber nicht mehr ewig auf eine Chance warten. Deshalb ergab es sich, dass ich 2009 für das Schweizer Team Rebellion im Langstreckenrennsport debütierte, ausgerechnet in Le Mans.

Wie fühlt es sich an, wenn man zum ersten Mal mit 350 km/h auf einer Nationalstrasse wie der Hunaudières fährt?

Vor allem in der Nacht ist es sehr speziell. Auf dieser Streckenpassage hat es immer auch Fotografen. Nachts habe ich bei den ersten Einsätzen jeweils gestutzt, wenn ein Fotoapparat blitzte – ich dachte sofort an ein Radargerät (lacht).

Was ist für Sie das Besondere an den 24 Stunden von Le Mans?

Die Besonderheit von Le Mans zeigt unter anderem das Rennen 2016. Das Toyota-Auto mit den Fahrern um Sébastien Buemi lag zehn Sekunden vor uns, wir hatten drei Runden vor Schluss einen Plattfuss, das Rennen war scheinbar gelaufen. Aber zwei Runden vor Schluss, nach fast 24 Stunden, blieb der Toyota liegen und wir gewannen doch noch. Solche Geschichten, eben auch dramatische, gibt es unzählige, sie tragen einen grossen Teil zum Mythos rund um Le Mans bei.

Hat das 24-Stunden-Rennen von Le Mans etwas von einem Lotteriespiel, weil man sich die Strecke mit viel langsameren Autos teilen muss?

Eine Lotterie ist das Rennen nicht, weil der Erfolg in Le Mans nicht nur vom Glück abhängt. Es heisst ja: Le Mans sucht sich seinen Sieger selbst aus. Und es ist so: Ich bekomme sehr früh ein Gefühl dafür, ob Le Mans für oder gegen mich ist. Das spüren hundertprozentig auch andere Fahrer.

Das Energiemanagement wird immer wichtiger. Hat dieses Rennen nicht auch eine frustrierende Seite?

Nein, überhaupt nicht. Auch wenn du dich einmal etwas zurückhalten musst, fährst du immer noch schnell. Das Rennen ist sehr strategisch ausgelegt, und zwar nicht nur über die nächsten zwei, drei Stunden, sondern über deren 24. Ein Stratege schaut sich das Rennen rückwärts an, das heisst, er beginnt bei Stunde 24, er kalkuliert und schaut anhand der aktuellen Position, ob die Rechnung für den weiteren Verlauf des Rennens noch aufgeht.

Was ist Ihr Geheimnis, um die Nacht durchzustehen? Es wurde oft von Wundermitteln gesprochen. Gibt es so etwas?

Das Wichtigste ist, ausgeruht anzureisen. Während des Rennens hält sich jeder Fahrer individuell wach. Der eine trinkt Kaffee, ein anderer nimmt einen Energybooster zu sich. Ich kann jederzeit überall schlafen.

Wenn man Le Mans gewinnt, realisiert man das sofort?

Ja. Aber ein Sieg bleibt präsent, auch Jahre später. Beispielsweise bist du dann nicht mehr nur ein Rennfahrer, du bist eben ein Le-Mans-Sieger.

Die Langstrecken-WM erlebt eine neue Ära, die der Hypercars. Wie sehen Sie diese Ära?

Die Spannung ist gross, weil es viel mehr Hersteller gibt. Auch das sportliche Reglement trägt seinen Teil zur Spannung bei, indem man die Autos von der Leistung her einander angleicht. Die Ära zuvor mit den LMP1-Prototypen war mehr etwas für Technikpuristen. Es ging um Entwicklung, Kosten wurden keine gescheut. Le Mans ist aber auch eine Show. Und eine Show zeigt letztlich das, wonach das Publikum verlangt.

Was ist für Sie und das Team Proton-Porsche bei den bevorstehend 24 Stunden möglich?

Sehr viel, wenn man sich das letzte Rennen in Spa-Francorchamps anschaut. Wir lagen bis lange nach Halbzeit des Rennens in Führung, nur die Ferrari konnten mithalten. Wir hoffen demnach, dass wir den Sprung aufs Podium schaffen

Stichwort Sébastien Buemi ...

Sébastien kenne ich schon sehr lange, erstmals getroffen habe ich ihn, als er sieben- oder achtjährig war, danach hat er eine super Karriere gemacht. Unsere Wege haben sich dann immer wieder gekreuzt. Nicht zuletzt haben Sébastien, Marcel Fässler und ich als Schweizer seit 2011 acht Le-Mans-Siege eingefahren. Das verbindet.

Wie sehen Sie das 24-Stunden-Rennen von Le Mans in den nächsten Jahren?

Ursprünglich wollten die Hersteller in Le Mans ja zeigen, dass sie Autos bauen, die durchkommen. Also stellte man Le Mans auf die Beine. Heute geht es mehr um die Effizienz eines Autos. Je weniger oft du an die Box musst und dort Zeit verlierst, desto grösser ist die Chance, zu gewinnen. Das heisst, Le Mans ging immer mit der Zeit. Welche Ansprüche ein Rennwagen der Zukunft erfüllen muss, ist heute schwer zu sagen. Wir leben in einer Zeit des Mobilitätwandels, es gibt viele technische Idee und Ansätze. In zehn Jahren wird Le Mans anders sein als heute. Als ich 2009 mein erstes Rennen gefahren bin, hatten wir Zwölfzylinder-Motoren, wir drehten acht Runden, bevor wir an der Box nachtankten. Gewonnen habe ich 2016 mit einem Vierzylindermotor, damit bin ich 15 Runden gefahren, obwohl der Tank weniger Benzin fasste, und ich war zudem 20 Sekunden pro Runde schneller. Die Entwicklungsschritte der Motoren und Autos, allein während meiner Le-Mans-Jahre, waren extrem. 

Fotos: Toyota, Porsche

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