Der Traum von vergangener Grösse

Peter Ruch | 23.11.2023

Elektro-Oberklasse Cadillac meldet sich in der Schweiz zurück – wieder einmal. Der einst mächtigste Luxus­hersteller, der sich als «Standard of the World» bezeichnete, 
packt dafür wieder einmal eine neue Strategie aus.

Cadillac 6

Während der Automobil-Frühzeit war die Dewar Trophy die höchste denkbare Auszeichnung. 1908 durfte Cadillac, 1902 hervorgegangen aus den Überresten der Henry Ford Company, den Preis dafür entgegennehmen, dass die US-Amerikaner als erster Hersteller so präzis arbeiteten, dass Ersatzteile untereinander ausgetauscht werden konnten. Ende Februar 1908 wurden drei Cadillac in England unter den gestrengen Augen des Royal Automobile Club komplett auseinandergebaut, jeweils 721 Teile wild durcheinander gemischt – und dann von den Mechanikern wieder zusammengefügt. Alle drei Fahrzeuge liefen danach wie vorher. Cadillac, geführt vom pedantischen Henry M. Leland, schrieb sich daraufhin den Slogan «Standard of the World» auf die Fahnen.

Auf und dann ab

In der Folge wurde Cadillac von General Motors übernommen (1909), erfand die erste elektrische Zündung und den Anlasser, präsentierte den ersten serienmässig gebauten V8 (1914), eröffnete unter Harley Earl das erste Designstudio (1927), montierte das erste synchronisierte Getriebe (1928), schuf gleich zwei aussergewöhnlichen V16-Motoren (ab 1930), lancierte die Heckflossen (1948), die Panorama-Windschutzscheibe (1953) und die Servolenkung (1954) – und verkaufte im Modelljahr 1966 erstmals mehr als 200 000 Fahrzeuge in einem Jahr. Rolls-Royce schaffte es damals auf ein paar Hundert, Mercedes war noch gar nicht vertreten in diesem Segment, die amerikanische Konkurrenz wie Marmon oder Packard hatte längst aufgegeben. Cadillac war damals wirklich Standard of the World.

Dann ging es bergab, auch wenn die Zahlen vorerst weiter anstiegen, 1985 war das beste Jahr mit 384 000 verkauften Fahrzeugen. Der Marktanteil auf dem amerikanischen Luxusmarkt fiel von 31 Prozent 1980 auf gut 20 Prozent zehn Jahre später. 2018 lag Cadillac mit 154 000 verkauften Fahrzeugen bei nur noch sieben Prozent (sogar hinter der Honda-Marke Acura). 2021 war mit 118 000 Exemplaren der Tiefpunkt erreicht, im vergangenen Jahr lief es mit 134 703 Stück wieder ein bisschen besser. Ein Grossteil davon waren Escalade, seit zwei Jahrzehnten Bestseller im Programm.

Neustart auf drei Säulen

Man kann Cadillac nicht vorwerfen, dass es nicht alles versuchte, um den Niedergang zu bremsen, ihm entgegenzuwirken. Es gab kleinere Modelle (etwa den furchtbaren Cimarron, ab 1982), moderne Motoren (den wunderbaren Northstar), man versuchte es mit Kooperationen (Pininfarina, wie schon in den 1950er-Jahren), sehr modernem Design oder auch noch Sportlichkeit (V-Series). Wenn es dabei ein Problem gab, dann war es am ehesten die fehlende Kontinuität. Was zu einem schleichenden Vertrauensverlust führte.

Cadillac 1

Ab 1930 baute Cadillac einen 16-Zylinder-Motor – es gab damals nichts Besseres. Dies ist ein All Weather Phaeton von Murphy.

Jetzt soll wieder einmal alles anders werden, die Hoffnungen liegen auf drei Säulen: China, Strom und wahrem Luxus. Dass die Amerikaner erst sehr spät merkten, dass eine Marke mit so grossartiger Geschichte wie Cadillac auch im Reich der Mitte funktionieren könnte, darf man sicher als strategisches Problem der GM-Führung bezeichnen. Das soll nun korrigiert werden. Allerdings sind die Zahlen bislang noch nicht wirklich begeisternd.

Escalade als Hoffnungsträger

Wenn es aber ums Image geht, dann soll es für Cadillac in China der gefühlt sechs Meter lange Celestiq richten. Obwohl dieser zwar dieser Tage (endlich) in Produktion geht, weiss man von ihm aber immer noch erstaunlich wenig. Er steht auf der Ultium-Plattform von General Motors, wird wahrscheinlich einen 111-kWh-Akku an Bord haben, wohl auf über 442 kW (600 PS) und mehr als 800 Nm maximales Drehmoment kommen. Als Reichweite des Stromers werden 480 Kilometer genannt, allerdings nach der strengeren US-Norm EPA. 500 bis 600 Exemplare des Celestiq, von dem noch keine Aussenmasse bekannt sind, sollen pro Jahr komplett von Hand gefertigt werden, der Einstandspreis liegt nach Angaben von Cadillac «nördlich von 340 000 Dollar».

Ab 2030 will auch Cadillac komplett auf Verbrenner verzichten, die rein elektrische Version des ewigen Bestsellers Escalade wurde bereits eingeführt, sie kommt im nächsten Sommer auf den Markt. Und er wird richtig grob: 200-kWh-Akku, bis zu 559 kW (760 PS) Leistung, über 1000 Nm Drehmoment. Man darf aber davon ausgehen, dass Cadillac damit alles richtig macht, wer einen Escalade will, der will ihn auch elektrisch als Überflieger. Ausser vielleicht beim Preis, die 130 000 Dollar sind im Vergleich zum schwächeren Celestiq geradezu ein Schnäppchen.

Zweiter Rang

Auf der 800-Volt-Ultium-Plattform basiert auch der schon länger bekannte Lyriq, der in den USA bereits seit vergangenem Jahr angeboten wird. Da begibt sich Cadillac nicht wie mit dem Celestiq in höchste Gefilde, sondern bietet das, was alle auch schon haben: ein elektrisches SUV. Das aber Cadillac-typisch über fünf Meter lang ist und leer schon 2.8 Tonnen wiegt. 388 kW (528 PS) und ein maximales Drehmoment von 610 Nm hauen niemanden mehr aus den bequemen Sesseln, die 530 Kilometer Reichweite sind zwar nett, aber nicht rekordverdächtig (Präsentation in AR 45/2023). Also müssen die Amerikaner in anderen Bereichen punkten, bei der Verarbeitung und den verwendeten Materialien etwa wollen sie ganz oben mitmischen. Das fiel amerikanischen Produkten in den vergangenen Jahrzehnten allerdings schwer. Auch die Verkaufszahlen sind alles andere als blendend: 5334 Exemplare konnten in den USA in den ersten drei Quartalen 2023 verkauft werden. Das reichte aber immerhin für den zweiten Platz im Segment hinter dem Tesla Model Y (284 500).

Erst dieser Tage wurde auf der Los Angeles Motor Show (noch bis 26. November) ein weiteres, rein elektrisches SUV vorgestellt, der Optiq. Auch zu diesem Fahrzeug mag Cadillac noch nicht viel erzählen, doch man darf davon ausgehen, dass es sich um einen technischen Zwilling des Chevrolet Equinox EV handelt, der 4.83 Meter lang ist und selbstverständlich ebenfalls auf der Ultium-Plattform steht. Den Equinox gibt es mit Front- und Allradantrieb und bis zu 213 kW (290 PS), der Optiq wird sich wohl auch in diesem Bereich bewegen. Und allein deshalb schon deutlich günstiger sein als der Lyriq, der in der Schweiz als Allradler ab 82 000 Franken kostet.

Keine Lichtgestalten

Die Frage, ob das genügen kann für eine Renaissance des einst so grossartigen Luxusherstellers, stellt sich aber trotzdem. Die Technologie für rein elektrische Fahrzeuge beherrschen andere auch, gerade beim Celestiq sieht man bestens, wie schnell die Entwicklungszeit vergeht: War der Luxusliner vor zwei Jahren, als er vorgestellt wurde, noch quasi allein auf weiter Flur, wirkt er heute schon fast veraltet. Auch der Lyriq macht nicht den Eindruck einer Lichtgestalt unter den E-Fahrzeugen, für chinesische Ansprüche wirkt er doch altbacken. Vom Optiq, den es noch gar nicht gibt, ganz zu schweigen. Standard of the World sind diese Cadillac im technischen Bereich wohl eher nicht.

Sicher können die neuen Cadillac mit ihrem durchaus aussergewöhnlichen Design punkten. Auch in Sachen opulenter Ausstattung liegen sie ganz weit oben, und die Bedienerführung überlassen sie Google, was ebenfalls kein Fehler ist. Für die USA mögen das gute Argumente sein, für Europa, wo Cadillac seit einigen Wochen wieder offiziell vertreten ist, etwa mit einem Flagship-Store an der Zürcher Bahnhofstrasse, reichen sie noch nicht. Und in China ticken die Uhren ohnehin ganz anders, viel schneller. 

Fotos: Cadillac, RM Sotheby’s

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