Klaus Justen | 28.03.2024
Verkehrssicherheit Ablenkung wird zu einem immer grösseren Faktor im Strassenverkehr. Auch die Autohersteller müssen gegensteuern.
Exakt 53 470-mal hat es im vergangenen Jahr auf Schweizer Strassen gekracht. In der Mehrzahl der Unfälle ging es mit Sachschäden vergleichsweise glimpflich ab, in 18 254 Fällen kamen aber Menschen zu Schaden. Rund 4100 Personen wurden schwer verletzt, 236 kamen bei einem Verkehrsunfall ums Leben. Das sind fünf Unfalltote weniger als im Vorjahr, aber 49 mehr als im bisher besten Jahr 2019.
Jeder vierte Unfall mit Verletzten hat eine Vortrittsverletzung als Ursache, auf Platz zwei weist die Statistik des Bundesamts für Strassen (Astra)aber schon Unaufmerksamkeit oder Ablenkung als Auslöser aus. Das ist ein Anstieg um mehr als 20 Prozent im Vergleich zum Vorjahr. Der wahre Anteil dürfte aber noch deutlich höher liegen, schätzt Christoph Lauterwasser, Verkehrssicherheitsexperte des Allianz-Zentrums für Technik (AZT) in Ismaning bei München (D). In mehreren Studien hat sich das AZT mit dem Thema Ablenkung beschäftigt. Dabei ergibt sich ein klarer Trend. Während vor mehr als zehn Jahren noch das Thema Telefonieren im Vordergrund stand, hat sich das durch die intensive Smartphonenutzung im Alltag verschoben. Das Lesen und Schreiben von Textnachrichten auch am Lenkrad des Autos hat deutlich zugenommen, jeder vierte Befragte räumte das in der Umfrage ein. Vielen Fahrerinnen und Fahrern sei das Risiko bewusst, das sie dabei eingehen – es werde aber weitgehend ausgeblendet. Und während vor acht Jahren die Nutzung des Smartphones, um während der Fahrt Musik auszuwählen, Bilder anzuschauen oder zu spielen, nur von sehr wenigen Befragten bejaht wurde, ist dies inzwischen für mehr als jeden fünften Alltag.
Doch es ist nicht allein das Smartphone, das für Ablenkung sorgt. Das Auto selbst holt inzwischen massiv auf beim Ablenkungspotenzial. In immer mehr Fahrzeugen bündelt ein zentrales Display die Bedienfunktionen – zum Beispiel auch für das Autoradio. In der AZT-Studie gaben 87 Prozent der Befragten an, dass sie ihr Autoradio über ein solches Menü steuern, jeder zweite fühlt sich dadurch abgelenkt. Das Unfallrisiko erhöht sich damit, so die Experten, um 89 Prozent, es verdoppelt sich also fast.
Es ist aber nicht nur das Autoradio, dessen Bedienung auf den zentralen (Touch-)Screen wandert. Dem Beispiel Tesla, das den grössten Teil der Bedienfunktionen über den Bildschirm steuert und in den aufgefrischten Model 3 und S auch die Blinkerhebel durch Tasten auf dem Lenkrad ersetzte, folgten andere Hersteller. Der Volvo EX30 etwa besticht einerseits durch sein cleanes Design, aber andererseits wurden in ihm sämtliche Knöpfe zur Bedienung wegrationalisiert.
Bei dieser Entwicklung will nun das Europäische Programm zur Bewertung von Neuwagen (Euro-NCAP) auf die Bremse treten. Matthew Avery, Director of Strategic Development, kündigte an, dass bei der Vergabe der für das Marketing der Hersteller so wichtigen Euro-NCAP-Sterne ab 2026 auch mitbewertet wird, ob es physische Bedienelemente für bestimmte Funktionen gebe. Zu diesen grundlegenden Funktionen zählen Blinker, Warnblinker, Scheibenwischer, Hupe und die E-Call-Taste für Notfälle.
Experten wie Lauterwasser unterstützen diesen Schritt. Appellieren aber auch an die Autofahrer, sich die Gefahren bewusst zu machen. «Das Texten beim Fahren am Steuer muss ein Tabu bleiben. Und wenn nicht der Beifahrer Einstellungen vornehmen kann oder sich Funktionen einfach per Sprachbedienung steuern lassen, muss man kurz rechts ranfahren. Das kostet nicht mehr als ein, zwei Minuten.»
Interview
«Wer sich ablenken lässt, hat ein um 50 Prozent höheres Unfallrisiko»
Christoph Lauterwasser Der Verkehrssicherheitsexperte des Allianz-Zentrums für Technik über den Beitrag von Smartphones und Fahrzeugbedienung zum Unfallgeschehen.
AUTOMOBIL REVUE:
Welche Rolle spielt Ablenkung im Unfallgeschehen?
Christoph Lauterwasser:
Ablenkung hat einen erheblichen Anteil am Unfallgeschehen. In der Schweiz war 2023 bei 2965 Unfällen mit Personenschäden Unaufmerksamkeit und Ablenkung die Ursache. Damit stieg der Anteil von 13 auf über 16 Prozent. Hinzu kommt eine hohe Dunkelziffer, weil der Nachweis für die Polizei sehr schwierig ist.
Welche Ablenkungsfaktoren sind die grössten?
Traditionell fokussieren wir uns bislang auf das Smartphone. Aber zunehmend müssen wir uns mit der Bedienung des Fahrzeugs selbst beschäftigen – mit Navigation oder Autoradio, um einmal zwei wesentliche und häufig benutzte Funktionen zu nennen. Allein seit 2016 ist die Bedienung des Autoradios über Bordcomputermenüs von 58 auf 87 Prozent angestiegen, fast jeder zweite Befragte fühlt sich vom Menü abgelenkt.
Wie wirkt sich dieses Verhalten aufs Unfallrisiko aus?
Autofahrer, die sich durch die Bedienung moderner Kommunikations-, Unterhaltungs- und Komforttechniken ablenken lassen, haben nach unserer aktuellen Ablenkungsstudie ein um rund 50 Prozent höheres Unfallrisiko. Das gilt gleichermassen für die Benutzung von Smartphones wie die Bedienung von Fahrzeugfunktionen.
In den letzten Jahren wurde das Lesen und Schreiben von Textnachrichten ein immer grösserer Risikofaktor. Holen das Auto selbst und seine Bedienung jetzt auf?
Wir haben immer noch viele Handyverstösse, auch wenn inzwischen für das Schreiben von Nachrichten auch Diktieren zum Beispiel via Apple Carplay möglich ist. Trotzdem nehmen immer noch viele Autofahrer das Smartphone in die Hand, vor allem junge Fahrer neigen dazu. Aber durch die Möglichkeiten, die moderne Autos bieten, nimmt die Ablenkung durchs Auto selbst stark zu.
Wo liegen die Schwachstellen?
Entscheidend ist, dass man durch die Bedienung via Bildschirm nicht nur visuell und haptisch, sondern auch mental abgelenkt ist – unabhängig davon, ob ich beim Touchscreen auf das Display fasse oder den Vorgang mit Tasten steuere. Das einfachste Beispiel: das Einstellen eines neuen Radiosenders. Ich muss im Menü zwischen FM und DAB auswählen und danach in einer langen Liste nach dem Sender suchen. Wenn ich in die Schweiz fahre und SRF einstellen will, muss ich weit herunterscrollen. Hat man zu viel Alkohol getrunken, weiss man, dass man nicht mehr fahren darf. Bei Ablenkung weiss man es auch, aber man tut es dennoch und taucht für mehrere Sekunden völlig weg.
Müssten die Autohersteller gegensteuern, also Bedienkonzepte wieder ändern?
Das machen die Autohersteller inzwischen, da hat ein Denkprozess eingesetzt, VW hat beispielsweise in einigen Modellen diesen Schritt bereits gemacht. Die Mensch-Maschine-Schnittstellen sind ein wichtiges Thema für Sicherheit und Akzeptanz.
Wie sehr helfen Assistenzsysteme?
Das inzwischen in neuen Fahrzeugen vorgeschriebene Monitoring kann hier helfen, es bleibt aber abzuwarten, wie effizient diese Systeme sein werden. Noch ist unklar, wie eindeutig Müdigkeit oder Ablenkung erkannt werden. Wichtig ist also, dass die EU die Wirksamkeit der Systeme evaluiert.
Viele Warnsysteme werden von Autofahrern als Bevormundung empfunden, weil schon bei kleinsten Tempoüberschreitungen gewarnt wird. Vermindert das die Akzeptanz dieser Systeme?
Das ist ein wichtiger Punkt. Nur wenn die Qualität der Warnung hinreichend ist, werden diese Systeme von den Autofahrern akzeptiert. Die Skepsis gegenüber diesen Systemen beruht vor allem auf Bedenken zum Datenschutz, beispielsweise auf der Frage, wer meine Daten bekommt.
Was halten Sie vom Vorhaben von Euro-NCAP, Punktabzüge bei der Bewertung vorzunehmen, wenn bestimmte Funktionen nicht per Taste oder Schalter gesteuert werden können?
Bei diesem Vorschlag sind wir als Unfallexperten dabei. Bislang intuitiv bediente Funktionen wie Blinker, Scheibenwischer oder Licht müssen haptisch bedienbar sein. Alles, was sicherheits- oder zeitkritisch ist, muss ohne Zwischenschritt erreichbar sein, also entweder über Tasten und Schalter oder auf der obersten Menüebene im Display. Entscheidend ist, dass es umso dramatischer wird, je länger die kognitive Abwendung vom Strassenverkehr dauert. Man ist zu 100 Prozent nicht mehr mit dem Verkehrsgeschehen beschäftigt.
Fotos: Adobe Stock, Allianz-Zentrum für Technik