Wo ist die Formel 1 zu Hause?

Elmar Brümmer | 24.05.2024

Expansion Die ­Formel 1 will weiter wachsen. Es soll 2025 sogar 25 Grand Prix geben, darunter einen vierten in den USA. Eine Gratwanderung.

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Grand Prix Miami 2024: Die US-Fans kommen in Scharen, manche Teams wie Racing Bull lackieren sogar die Autos um.

Es ist so etwas wie die Traditionswoche der Formel 1. An Pfingsten der Grand Prix der Emilia Romagna in Imola (I), jetzt am Wochenende der Klassiker in Monaco. Wer nur auf diesen Ausschnitt des Mammutkalenders der Königsklasse des Motorsports schaut, kommt unweigerlich zum Schluss: Stimmt doch alles. Die Tribünen sind voll, der Sport ist spannender als gedacht, der Boom der Serie hält unvermindert an. Im ersten Quartal scheffelten die Formel-1-Besitzer von Liberty Media Einnahmen von 553 Millionen Dollar, das sind 45 Prozent mehr als im gleichen Zeitraum des Vorjahres. Die Herren des US-Unterhaltungskonzerns nehmen das wohlwollend zur Kenntnis, aber es reicht ihnen nicht. Sie wollen immer mehr. Und mehr soll heissen: neue Rennen ausserhalb Europas. Was zur Kernfrage führt, die im Fahrerlager heiss diskutiert wird: Wo ist die Formel 1 wirklich zu Hause?

Zu der Rekordzahl von 24 Grand Prix wie im laufenden Jahr soll mindestens noch ein WM-Lauf hinzukommen, obwohl die Belastung für die Rennställe, aber auch die Fans schon jetzt an ihre Grenzen kommt. Der Markt scheint gesättigt, er lässt sich nicht mehr beliebig erweitern, auch wenn überall auf der Welt Interessenten mit Geldbündeln locken. Nicht so sehr auf dem angestammten europäischen Kontinent, was schon die Abstinenz ­eines Laufs in Deutschland illustriert, sondern in arabischen Nationen und natürlich in den USA, wo der Streamingdienst Netflix mit seinem Dauerbrenner «Formula 1: Drive to Survive» ganz neue Publikumsschichten erschlossen hat.

Warnende Beispiele

Gegen die neue Geopolitik ist auch überhaupt nichts einzuwenden, sie sichert den Fortbestand der Serie. Natürlich hätte auch die Idee eines Rennens in (Süd-)Afrika ihren Charme, aber dass die Formel-1-Organisation sogar 30 WM-Läufe pro Jahr für möglich hält, würde sowohl dem Sport wie auch der Exklusivität schaden. Dabei läuft es momentan gut wie nie. Nicht der Fussball, sondern der Motorsport hat die höchsten Zuwachsraten bei den jugendlichen Interessenten, ausserdem steigt die Frauenquote auf den Tribünen gewaltig. Wie bei einem Rennwagen aber ist die Entwicklung der Formel 1 auch eine Frage der richtigen Balance. Für eine Übersättigung mit Veranstaltungen bei gleichzeitigem Verlust der Traditionen gibt es reichlich warnende Beispiele aus dem Fussball oder Tennis. Auch Herkunft hat Zukunft.

Nur dem Lockruf des Geldes oder den Tribünenbesuchern von morgen zu folgen, wäre zu kurzfristig gedacht. Die Formel 1 als eine der am höchsten angesiedelten Profisportarten funktioniert nicht nach den Gesetzen der Streamingdienste. Sie braucht eine gesunde Basis, und dazu zählen vor allem auch Austragungsorte mit Tradition und ansprechendem Streckenlayout. Spektakel wie das Rennen ums Footballstadion in Miami oder ein Nacht-Grand-Prix in Las Vegas (beide USA) sind prima, solange sie nicht überhandnehmen. Natürlich muss eine funktionierende Serie ein Stück weit dem Hype folgen, den sie selbst entfacht hat, aber sie darf nicht alle Prinzipien aufgeben. Die immer häufiger auf dem Programm stehenden Sprintrennen sind ein Beispiel dafür, aber die Warnungen aus Fahrer- und Teamkreisen werden zugunsten der höheren Antrittsgelder in den Wind geschlagen. Thailand und Südkorea rechnen sich momentan die besten Chancen für eine Eintrittskarte aus, Imola und Barcelona (E) werden wohl weichen müssen.

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Austin 2023: Die wahren US-Fans der Formel 1 finden sich seit 2012 in Austin. Das US-Team von Haas zelebriert das mit Ami-Schlitten.

Die Inflation von Strassenrennen, 2026 auch in Madrid, bringt zwar ein neues, zahlungskräftiges Publikum mit sich – aber es verfälscht auch den Charakter der Serie. Weltmeister Max Verstappen führt die Fraktion der Traditionalisten an. Aber auch Ferrari-Pilot Carlos Sainz ist skeptisch, was viele neue oder temporäre Pisten angeht: «Ich vermisse oft dieses Old-School-Gefühl bei den Strecken und die Geschichte dahinter. Deshalb muss der WM-Kalender die alten Austragungsorte beibehalten, denn sie erinnern uns alle daran, woher wir kommen und warum wir alle Fans dieses Sports geworden sind.» Nichts dagegen hat der Spanier natürlich, die klassischen Pisten so zu verändern, dass sie aufregender werden oder mehr Überholmöglichkeiten bieten. Max Verstappen drückt es noch drastischer aus: «Am liebsten hätte ich 24 alte Rennstrecken.»

Die noch von Bernie Ecclestone, dem vormaligen Formel-1-Boss, angestossene Expansion der noch bis tief in die 1990er-Jahre sehr europäischen Formel 1 hat die Serie zu einer echten Weltmeisterschaft reifen lassen. Keine Frage, dass Mexiko, Singapur oder auch Abu Dhabi willkommene Ergänzungen sind. Aber muss die Reise wirklich dahin gehen, dass es einen vierten Grand Prix in den USA gibt? Hirngespinste wie die eines Rennens in Chicago geistern herum, ein Comeback von Long Beach oder der Traum vom Rennen in New York. Es ist die Hoffnung auf schnelles Wachstum. Dabei ist der nordamerikanische Kontinent doch schon gut aufgestellt: Die Hardcore-Fans finden in Montreal (Kanada) und Austin (USA) ihre Befriedigung, wer nur Spektakel möchte, pilgert nach Las Vegas, und Mexiko und Miami bieten einen Mix aus beidem. Immerhin hat es die Formel 1 nach dem Fehlversuch in Indianapolis (USA, 2000 bis 2007) geschafft, die US-Fans neugierig zu machen auf einen hoch technischen Motorsport. Tatsächlich haben sich zuletzt in Miami ganz normale Sportsfreunde unter die hochrangigen Wirtschaftsgrössen und das örtliche Partypublikum gemischt, garniert mit einer Menge Stars.

Ein Schritt zu mehr Identität?

Ein warnendes Beispiel für die generelle Übersättigung aber ist die Zahl von Rennen in Ölförderstaaten. Braucht es wirklich Rennen in Aserbaidschan oder Katar, wo es doch schon Läufe in Bahrain, Saudi-Arabien und Abu Dhabi gibt? Wieso soll Istanbul zurückkehren, das sich als Niemandsland für den Topmotorsport auf zwei wie vier Rädern erwiesen hat? Mit gleicher Berechtigung könnte Spanien einen zusätzlichen WM-Lauf auf Mallorca fordern. Lando Norris als einer der kommenden Stars hat eine klare Meinung dazu: «Ich möchte Strecken, die mich herausfordern, und das sind nun einmal die, die eine Historie besitzen.»

Immerhin scheint sich ein anderer von Norris’ Wünschen zu erfüllen, der nach mehr Sound bei den Rennwagen. Formel-1-Geschäftsführer Stefano Domenicali als Wanderer zwischen Business und Sport schreibt der Komponente Lautstärke für das nächste Motorenreglement 2030 eine hohe Wichtigkeit zu. Auch weil sie auf der Wunschliste der Fans ganz oben steht. Möglich, dass dann dank nachhaltiger E-Fuels die bisherigen Hybridmotoren wieder ausgedient haben werden, womit ein Grundelement des Motorsports zurückkehren würde, die Hörbarkeit. Es würde lauter, aber auch billiger werden. Ein Schritt zurück – und einer hin zu mehr Identität der Formel 1. 

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Las Vegas 2023: Für den Mega-Event bekamen auch die Räder einen Spielhöllen-Anstrich.

Fakten zur Formel 1 in den USA

• Seit 1950 bei der Einführung der Formel-1-WM bis Ende 2024 werden in den USA 78 WM-Läufe der Formel 1 gefahren.

• Von den 78 WM-Läufen sind nur 67 Grand Prix, elfmal wurden die 500 Meilen von Indianapolis zur WM gezählt (1950–1960).

• Die meisten Grand Prix in den USA wurden bisher in Watkins Glen gefahren. Zwischen 1961 und 1980 gab es dort 20 GP.

• Die Formel 1 kehrte nach Indianapolis zurück. Zwischen 2000 und 2007 fanden Grand Prix statt, allerdings verlief die Strecke nur teilweise über das berühmte Oval des 500-Meilen-Rennens.

• Von 1976 bis 1984 gab es jedes Jahr immer zwei GP in den USA, meist betitelt mit USA-West und USA-Ost. Die GP wurden in Watkins Glen, Long Beach, Detroit, Las Vegas und Dallas gefahren.

• Nicht alle WM-Läufe in den USA waren Grand Prix der USA. Es gab GP USA-West und USA-Ost, später kamen auch der GP Las Vegas und der GP Miami dazu.

• 2022 wurden in den USA wieder zwei GP gefahren (Austin, Miami), seit 2023 sogar drei (Austin, Miami, Las Vegas). Ab 2025 könnten es vier sein.

• Die meisten GP auf US-Boden gewannen Max Verstappen und Lewis Hamilton (je 6), gefolgt von Michael Schumacher und Ayrton Senna (je 5).

• Clay Regazzoni (Ferrari) war 1976 in Long Beach einziger Schweizer GP-Sieger in den USA. 

WHJ

Fotos: Red Bull, Haas

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