Stromgesetz – Der Wettlauf beginnt

Cédric Heer | 13.06.2024

Abstimmung Die Bevölkerung hat dem Stromgesetz zugestimmt. Damit scheint der Weg frei für eine unabhängigere Energiepolitik. Doch der Schein trügt. Eine Aufschlüsselung der aktuellen Ereignisse.

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Wasserkraft bleibt ein wichtiger Pfeiler der Schweizer Energiepolitik. Der Damm des Göscheneralpsees soll um 15 Meter erhöht werden. Durch den grösseren Speicherinhalt liesse sich die Stromproduktion verstärkt vom Sommer in den Winter verschieben.

Das Schweizer Stimmvolk hat am vergangenen Sonntag abgestimmt. Unter anderem hat es das Stromversorgungsgesetz mit 68.7 Prozent deutlich angenommen. Damit verpflichtet sich die Schweiz zu konkreten Zielen: Die Produktion von Elektrizität aus erneuerbaren Energien, ausgenommen der Wasserkraft, hat im Jahr 2035 mindestens 35 TWh und 2050 mindestens 45 TWh zu betragen. Zudem muss die Nettoproduktion aus Wasserkraft 2035 mindestens 37.9 TWh und im Jahr 2050 mindestens 39.2 TWh betragen. Damit muss innert elf Jahren fünfmal mehr Strom aus erneuerbaren Quellen produziert werden als heute. Zudem darf der Netto-Stromimport im Winterhalbjahr fünf Terawattstunden nicht überschreiten. Gleichzeitig gibt es auch Ziele für den Durchschnittsverbrauch vor. Bis zum Jahr 2035 ist der Energieverbrauch pro Person gegenüber dem Stand des Jahres 2000 um 43 Prozent und bis zum Jahr 2050 um 53 Prozent zu senken. Bei der Elektrizität sind es 13 respektive fünf Prozent im selben Vergleichszeitraum. Auch der Kraftwerkausbau wird subventioniert, zusätzlich werden die Verfahren vereinfacht.

Stark abhängig

Zur Einordnung all dieser Zahlen: Die Schweiz verbrauchte in den letzten fünf Jahren durchschnittlich rund 810 000 Terajoule (225 TWh) Energie pro Jahr – der Bruttowert ist durch Umwandlungsverluste nochmals rund 30 Prozent höher – und ist dafür durch Importe zu rund 70 Prozent abhängig vom Ausland, wie das Bundesamt für Energie angibt. Die Bereiche Verkehr, Haushalte und Wirtschaft verbrauchen je rund ein Drittel der Endenergie der Schweiz. Ebenfalls machen fossile Treibstoffe ungefähr einen Drittel des gesamten Endenergieverbrauchs aus, wie Energie Schweiz angibt. 2022 wurden 8 090 000 Tonnen Erdölprodukte vor allem aus Nigeria, den USA und Libyen importiert. Dahinter folgen als Energiequellen Kernenergie (19.9 %), Wasserkraft (14 %), Gas (12.8 %) und alle übrigen Energieformen (17 %). An der inländischen Stromproduktion beteiligt sind derzeit mit einem Anteil von fast zwei Dritteln die Wasserkraft und mit knapp einem Drittel Kernkraftwerke. Auf konventionelle Wärmekraftwerke und erneuerbare Energiequellen fallen aktuell nur neun Prozent der Produktion an.

Für das Jahr 2050 geht der Verband Schweizerischer Elektrizitätsunternehmen in einer gemeinsamen Studie mit der Eidgenössischen Materialprüfungs- und Forschungsanstalt (Empa) davon aus, dass der jährliche Stromverbrauch rund 140 bis 160 TWh betragen wird, unter anderem weil elektrische Systeme in der Regel effizienter sind als fossile. Rechnen wir die Vorgaben aus dem neuen Stromgesetz zusammen, dann kommt man im Jahr 2050 auf mindestens 45 TWh aus erneuerbarer Stromproduktion plus mindestens 39.2 TWh aus Wasserkraft, was zusammen maximal 60 Prozent des Energieverbrauchs abdeckt. Die Schweiz wird also auch künftig viel Strom importieren müssen. Allerdings sinkt die Importabhängigkeit von heute 79 Prozent auf je nach Szenario 30 bis 42 Prozent, wie die angesprochene Studie vorrechnet.

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Bestrebungen zum Ausbau der Solarkraft laufen schon jetzt. Hier entlang der A28 in Graubünden.

Hauptargument der Befürworter des Bundesgesetzes über eine sichere Stromversorgung mit erneuerbaren Energien war denn auch die geringere Abhängig vom Ausland. Zudem werde der Weg für eine fossilfreie Energiewirtschaft bereitet. Gleichzeitig ergeben sich für Privatpersonen Vorteile. Wer Solaranlagen installiert, wird weiter finanziell unterstützt. Für Solarstrom, der ins Netz eingespeist wird, gibt es schweizweit vereinheitlichte Mindestpreise. Innerhalb eines Quartiers darf neu mit eigenproduziertem Solarstrom gehandelt werden.

Urteil mit Symbolcharakter

Wir erinnern uns: Mit der Annahme des revidierten CO2-Gesetzes verpflichtete sich die Schweiz zum Netto-null-Ziel bis ins Jahr 2050. Die neuerliche Annahme einer klimafreundlichen Vorlage geht aber einigen nach wie vor zu wenig weit. Der Schweiz wurde bekanntlich vor Kurzem vorgeworfen, die Menschenrechte zu verletzen. Das Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) hat Symbolcharakter und sorgte für ein globales Medieninteresse. Der Verein Klima­seniorinnen Schweiz, eine Untergruppierung von Greenpeace, hat geklagt, dass man hierzulande nicht genügend für den Klimaschutz tue, was die Gesundheit und das Leben älterer Frauen erheblich beeinträchtige. Die Richter in Strassburg (F) gaben ihnen recht. Die Schweiz ist als Mitgliedsstaat des Europarats nun also theoretisch verpflichtet, mehr fürs Klima zu tun.

Für den Ständerat sieht die Sache allerdings anders aus. Er segnete mit 31 zu 11 Stimmen bei zwei Enthaltungen eine Erklärung an die Strassburger Richter ab und legte dar, weshalb er den Entscheid zwar akzeptiere, aber dennoch der Ansicht sei, dass das, was das Urteil verlange, bereits erfüllt sei. Auch der Nationalrat dürfte die Erklärung diese Woche deutlich gutheissen. Vorwiegend, weil das Urteil noch vor der Annahme des revidierten CO2-Gesetzes gefällt wurde – nun kommt auch noch das angenommene Stromgesetz hinzu – und die jüngsten Entwicklungen in der Schweizer Klimagesetzgebung also gar nicht berücksichtigt wurden. «Die Erklärung soll nicht bedeuten, dass das Urteil ignoriert und die Menschenrechte verneint werden. Sie besagt lediglich, dass die Schweiz keinen Anlass sehe, dem Urteil weiter Folge zu geben», sagt FDP-Ständerat Andrea Caroni (AR). Zudem wirft das Parlament dem EGMR vor, die Grenzen der zuverlässigen Rechtsfortentwicklung überstrapaziert zu haben. Es sei nicht die Aufgabe eines Gerichts, die Gesetzgeber zu übersteuern, sagt etwa Ständerat Daniel Jositsch (SP/ZH). Der Gerichtshof habe sich zum moralischen Gesetzgeber aufgespielt, doppelt Ständerat Pirmin Schwander (SVP/SZ) nach. Wie der EGMR darauf reagiert, ist noch unklar, allerdings scheinen die Hebel tatsächlich begrenzt.

Andererseits argumentiert etwa Ständerat Carlo Sommaruga (SP/GE), dass es nicht Aufgabe der Politik sei, der Judikative vorzuschreiben, was sie zu tun habe. Nicht genehme Urteile als Kompetenzüberschreitung der Justiz anzusehen, sei das, was autoritäre Staaten und Politiker wie Ex-US-Präsident Donald Trump täten. Gar als Schande kritisierte Céline Vara (Grüne/NE) die Erklärung.

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Die Klimaseniorinnen Schweiz klagten beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte gegen die Schweizer Klimapolitik und erhielten Recht.

Auch Amnesty International zeigt sich besorgt. «Mit der Bereitschaft, ein Urteil des EGMR zu missachten, würde die Schweiz ein verheerendes Signal an die europäischen Staaten senden, dass sie sich nicht mehr an die Konvention und die Urteile des Gerichts gebunden fühlt. Zudem wird der Volkswille missachtet. In der Abstimmung über die Selbstbestimmungs-Initiative 2018 gaben die Stimmbevölkerung sowie alle Kantone ein klares Bekenntnis zur Europäischen Menschenrechtskonvention ab», sagt Alexandra Karle, Geschäftsleiterin von Amnesty Schweiz.

Ein Trugschluss

Soweit die Ausgangslage. Interessant ist ausserdem, welche Argumente Direktinvolvierte in die Diskussion werfen (s. Editorial links). Und wie sich die Fronten der Klimapolitik zusehends verhärten beziehungsweise die Lager sich weiter und weiter voneinander entfernen. Einerseits wirft Klimaseniorin und alt Nationalrätin der Grünen, Pia Hollenstein, dem Parlament vor: «Es wäre ehrlicher zu sagen, dass ihr das Klima gar nicht verbessern wollt, weil ihr überhaupt noch nicht erkannt habt, wie gravierend die Lage ist.» Andererseits betont SVP-Nationalrat Christian Imark (SO), dass man der Verantwortung fürs Klima nur nachhaltig Rechnung tragen könne, wenn Bevölkerung und Wirtschaft abgeholt würden. Imarks Lösung übrigens sind neue AKW. Diese Diskussion dürfte auch Umwelt- und Energieminister Albert Rösti bald wieder anstossen.

Mit der Annahme des Stromgesetzes hat die Schweiz einen Grundstein für eine nachhaltigere und unabhängigere Energiepolitik gelegt. Damit ist es jedoch nicht getan, wie die Zahlen zeigen. Umso mehr, als dass das jüngste Kernkraftwerk in Leibstadt AG noch vor 2050 vom Netz gehen soll. Die Betreiber prüfen derzeit die Auswirkungen ­einer Betriebsverlängerung auf bis zu 80 Jahre. Dass die Schweiz nun maximal klimafreundlich agiert und überwiegend unabhängig von Importen wird, ist nur die halbe Wahrheit. Die Formulierung, dass die Schweiz sich andererseits zu wenig für den Klimaschutz engagiere oder gar Menschenrechte verletze, ist mit Blick auf andere Industrienationen eher unglücklich. Zwar lag der Bruttoenergieverbrauch gemäss Energie Schweiz leicht über dem europäischen und weit über dem globalen Durchschnitt. Jedoch beläuft sich der Anteil fossiler Energieträger am weltweiten Bruttoenergieverbrauch auf über 80 Prozent. Im Vergleich dazu stünde die Schweiz 2050 mit Erreichen des Netto-null-Ziels sehr gut da. Die Frage bleibt, wie genau und wie schnell sich das umsetzen lässt. Ein Gesetz allein produziert noch keinen Strom. 

Fotos: Astra, CKW, Greenpeace/Miriam Künzli

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