Ostblock-Express

Martin Sigrist | 17.01.2024

Jubilar Der Tatra 613 wird 50-jährig. Der tschechische Elitewagen, der vom Erfinder des ­luftgekühlten Heckmotors gebaut wurde, war in vielerlei Hinsicht aussergewöhnlich.

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Der konstruktive Aufwand, der im Tatra 613 steckt, lässt sich ohne Weiteres mit jenem für einen zeitgenössischen Porsche 911 vergleichen.

Tatra war hierzulande dank des Efforts des Importeurs Ferdinand Schenk im bernischen Worblaufen ein Begriff, selbst wenn 1974 längst keine Wagen mehr offiziell ihren Weg in die Schweiz fanden. Vor und direkt nach dem Zweiten Weltkrieg aber hatten die Tschechen mit ihren luftgekühlten Front- und Heckmotormodellen in der Schweiz eine treue Fangemeinde gewonnen, vielleicht mit ein Grund, warum 1982 der einzige Tatra-Club im Westen bei uns gegründet wurde.

Der einzige Tatra, der Ende der 1960er-Jahre noch gebaut wurde, war der 1956 vorgestellte, fast schon adipös-rundliche 603. Tatra war in der Ära des Kommunismus zum Auto der Behörden, hoher Staatsbeamter und Parteibonzen geworden. Sie waren etwas Besonderes – aber nicht immer war ihr Anblick auf der Strasse beim normalen Volk von positiven Gefühlen begleitet.


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Schwarz und unheimlich: Tatra 613 dienten auch der Geheimpolizei, 
ihr Auftauchen bereitete normalen Genossen oft mulmige Gefühle.

Im Jahr 1968 wünschte sich diese Kundschaft ein moderneres Fortbewegungsmittel. Die Ingenieure und gewieften Verantwortlichen, die die Eigenständigkeit der Marke trotz des staatlich verordneten, kommunistischen Einheitsbreis stets bewahren konnten, witterten ihre Chance. Vignale in Turin (I) erhielt den Auftrag, eine neue Karosserie zu entwerfen, dem Zeitgeschmack entsprechend mit Ecken und Kanten. Das Ziel war es, bei ähnlichen Aussenmassen mehr Platz im Innen- und vorderen Kofferraum zu gewinnen. Während in Italien die Designer einen Massanzug mit Bügelfalten als Nachfolger für den walartigen, bauchigen Tatra 603 zeichneten, legten sich in Koprivnice (Tschechien, deutsch Nesselsdorf) die Ingenieure ins Zeug. Der 613 erhielt einen neuen DOHC-Motor mit 3.5 Litern Hubraum und zwei Jikov-Doppelvergasern. Zur besseren Gewichtsverteilung sass der Motor mittig auf der Hinterachse – mit je vier Zylindern vor und hinter der Achslinie. Das Differenzial war neben dem Carter eingebaut – mit ­einer Welle durch dieses hindurch zur anderen Seite. Das Getriebe sass vor dem Motor unter der Rückbank mit zwei Tanks daneben. Mit 163 PS war der Tatra 613 zwar nicht der stärkste Wagen des Ostens, Tschaika und Zil aus der damaligen Sowjet­union leisteten noch mehr, aber mit 190 km/h der schnellste. Vorne hatte der 613 eine Federbein­achse, hinten gab es Schräglenker statt wie früher Schwingachsen. An allen Rädern bremsten belüftete Scheiben. Nur eine Servolenkung suchte man vergebens, sie war auch keine dringende Notwendigkeit.

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Ein Tatra 613 am Autosalon von Turin in den 1970er-Jahren, das Design stammte vom Turiner Karossier Vignale.

Am Autosalon im blockfreien Belgrad im April 1974 stand der 613 erstmals gemeinsam mit westlichen Autos in einer Ausstellung, doch auch dem Salon in Genf machte der 613 später seine Aufwartung. In den Westen exportiert wurde der Wagen aber kaum, in die Schweiz gelangte dennoch recht früh mindestens ein Exemplar. Der 613 blieb, laufend verbessert, bis in die 1990er-Jahre in Produktion. Damit überlebte diese Konstruktion, die ungewöhnlich war, aber verblüffend kompetent in ihrer Ausführung und in ihrer Konsequenz mit einem Porsche 911 durchaus vergleichbar, sogar den Kommunismus. Und der Nachfolger Tatra 700 trug viele seiner Merkmale bis knapp vor die Jahrtausendwende weiter, als in Koprivnice die Autoproduktion 1999 eingestellt wurde. Wer heute noch einen Tatra 613 besitzt, gibt ihn nicht her, sie werden international auf den einschlägigen Portalen denn auch kaum angeboten.

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Einen ersten Auftritt vor westlichen Kritikern hatte der Tatra 613 im April 1974 in Belgrad.

Technische Daten

Tatra 613 1974 (in vier Serien bis 1996 ­gebaut).

Motor Alu-V8 über der Hinterachse, luft­gekühlt. DOHC, 3495 cm³, 163 PS bei 
5200 U/min, 265 Nm bei 2500–3000 U/min. 2 Fallstrom-Doppelvergaser Jikov.

Antrieb 4-Gang-Getriebe vor dem Motor, Differenzial seitlich unter dem Motor mit Welle durch die Ölwanne. Hinterradantrieb.

Fahrwerk Vorne Querlenker und Federbeine, hinten Schräglenker, Schraubenfedern, 4 innen­belüftete Scheibenbremsen. Zahn­stangenlenkung mit Sicherheitslenksäule.

Karosserie Stahlblech selbsttragend, 5 Plätze, serienmässig mit Standheizung.

Fahrleistungen 0–100 km/h 12.5 s, Maximalgeschwindigkeit 190 km/h.

Stückzahl Circa 10 000 Exemplare.

Preis Nicht offiziell in die Schweiz importiert.

Fotos: AR-Archiv, Dr. Eberhard Seifert

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Linientreu: An Privatpersonen wurde der Tatra 613 kaum verkauft. Ihn zu fahren bedeutete ein Privileg.

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Unter der vorderen Haube des Tatra 613 verbarg sich ein erstaunlich geräumiger Kofferraum.

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In Sachen Verarbeitungsqualität war der handgebaute Tatra 613 eine bemerkenswerte Ausnahme unter den Ost-Autos.

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Beim luftgekühlten DOHC 3.5-Liter V8-Motor hatten die Konstrukteure keinerlei Aufwand gescheut.

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Vom Tatra-Werk für die AR handgetipptes – und ergänztes –  Datenblatt des Tatra 613.

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