Am 3. August 1924 fuhren nicht weniger als sechs blaue, relativ kleine Rennwagen zum Grand Prix von Frankreich in Lyon vor. Fünf Wagen waren zum Start gemeldet, der sechste war das Reserveauto. Angereist waren die neuen Rennwagen auf der Strasse, angeführt vom Patron selber, Ettore Bugatti, dem Fabrikanten und Konstrukteur herausragender Renn-, Sport- und Tourenwagen im elsässischen Molsheim. Zierlich waren die Bugatti, manch ein nichts ahnender Betrachter vermutete, dass sie in der leichten Voiturette-Klasse antreten sollten und nicht bei den ausgewachsenen Grand-Prix-Wagen. Mit acht breiten Speichen besonders auffällig waren die Aluminiumfelgen des neuen Bugatti 35. Bereits 1910, zu Beginn seiner selbständigen Tätigkeit als Konstrukteur und Hersteller, erklärte Bugatti in einem Brief an seine Kunden, dass er dem Gewicht sein Hauptaugenmerk widmen werde. Dabei sei es mit dem Weglassen allein nicht getan, es brauche auch das beste Material und eine Ausgewogenheit aller Komponenten. Betrachtet man einen Type 35, so bezieht sich diese Ausgewogenheit auch auf die Form. Es heisst, der Kühler habe den ganzen Wagenkörper mitbestimmt, die Motorhaube geht aus dem Kühler hervor und formt die Karosserie bis zum Cockpit des Wagens. Diese umschliesst den ganzen Wagenkörper, nur die hinteren Längslenker und die charakteristische Vorderachse bleiben frei.
Vollblut-Legende Bugatti Type 35
Martin Sigrist | 22.02.2024
100-Jahr-Jubiläum Gut 2500 Rennsiege errang der Bugatti 35. 1924 erstmals eingesetzt, prägte der Wagen aus dem Elsass eine ganze Epoche des Motorsports und den Geist der Marke.
Grundmuster Der erste Type 35 war 1924 wegweisend für alle weiteren Konstruktionen Ettore Bugattis.
Konstrukteur Ettore Bugatti 1924 im Reserveauto mit Sohn Jean vor der Premiere am Grand Prix von Frankreich in Lyon.
Serien-Rennwagen
Ettore Bugatti war aus verschiedenen Gründen auf eigener Achse nach Lyon gefahren. Zunächst würden so seine neuen Rennwagen richtig eingefahren, zum anderen wollte er den Beweis antreten, dass der neue Bugatti zu einem Rennen gefahren werden, dieses gewinnen und danach seinen Piloten heil wieder nach Hause bringen könne. Der neue Wagen sollte sich in der Stadt genauso gut fahren lassen wie an einem Rennen.
In der Tat steckte hinter dem 35 ein grösserer Plan als bei früheren Rennwagen aus Molsheim. Der wichtigste Aspekt war, dass er in Serie gebaut werden sollte. Zeitgenössische Rennwagen wurden in der Regel eigens für den Wettbewerb, bei dem er starten sollte, gebaut. Oft überschritt die Stückzahl kaum eine Handvoll Exemplare, an denen so lange gefeilt wurde, bis sie passten. Nicht so der Bugatti 35. Das neue Modell folgte einer integralen Idee, nach der ein Rennwagen für viele Zwecke gebaut sein müsse. Als erstes war es die bereits erwähnte Kompaktheit des Wagens. Dazu zeigte der Bugatti 35 Elemente, die später charakteristisch für die Marke werden sollten. Die Vorderachse beispielsweise war ein eigentliches Kunstwerk aus Chromnickelstahl. Hohlgeschmiedet, führen die Blattfedern durch die Achse hindurch, die Konstruktion sollte wie die Aluminiumräder die ungefederte Masse gering halten. Die aufwendige Achskonstruktion verdeutlicht das Streben nach Vereinfachung durch die Zuweisung verschiedener Funktionen an ein einziges Teil. Bugatti sollte im Verlauf der Geschichte in nahezu blinder Überzeugung an dieser ab Mitte der 1930er-Jahre als überholt geltenden Ausführung festhalten. Sogar als deutlich wurde, dass eine unabhängige Vorderradaufhängung günstiger zu realisieren war als die arbeitsintensive Starrachse. 1924 aber war sie Ausdruck der Einzigartigkeit der Molsheimer und der Präzision jeder einzelnen Komponente des neuen Wagens. Als Antrieb diente dem ersten Type 35 ein Zweiliter-Achtzylinder-Reihenmotor, der zunächst entgegen den Trend der 1920er-Jahre ohne Kompressor auskam. Ettore Bugatti betonte, dass er einen durch und durch normalen Motor gebaut habe, das Aufladen empfand er als Betrug und Massnahme zum Beheben von Nachteilen einer unzulänglichen Grundkonstruktion. Mit einer Zylinderbohrung von 60 Millimetern und einem Hub von 88 Millimetern leistete der OHC-Motor mit drei Ventilen pro Zylinder rund 95 PS. Die fünffach gelagerte Kurbelwelle drehte in Rollenlagern. Das Limit lag bei damals ungeheuren 5500 Umdrehungen pro Minute. Das reichte bei einem Fahrzeuggewicht von etwa 750 Kilogramm für rund 175 bis 190 km/h. Gebremst wurde der Rennwagen wie damals üblich mit mechanisch betätigten Trommelbremsen, die als Besonderheit in die Aluminiumräder integriert waren. Die Kraft des Bremspedals wurde über eine raffinierte Umlenkung zunächst per Kette und danach über Kabelzüge an die Bremsen weitergeleitet.
Bremstrommel im Leichtmetallrad eingegossen, Bremse über Kabelzug.
Flop zum Start
Der Grand Prix in Lyon wurde – anders als der viel beachtete Einzug der Bugatti-Kolonne im Vorfeld des Rennens – nicht zum Triumphzug. Schuld daran waren aber nicht die Autos, sondern deren Pneumatik. An den Dunlop-Reifen lösten sich die Laufflächen, was zu zahlreichen Boxenstopps während des Rennens über rund 800 Kilometer führte. Sieger wurde der ebenso brandneue Alfa Romeo P2, ein Auto mit Kompressor, gefahren von Alberto Campari. Von den fünf gestarteten Bugatti 35 klassierten sich zwei auf den letzten Plätzen der nur acht gewerteten Wagen. Im Jahr darauf aber folgten erste Siege für den 35, der wichtigste war jener bei der Targa Florio. Nicht weniger als fünf Mal in Folge stand bis 1929 ein Bugatti zuoberst auf der Rangliste des Strassenrennens auf Sizilien.
Trotz Widerstands des Patrons Ettore Bugatti wurde im Verlauf der Rennsaison 1925 klar, dass es dem hervorragend liegenden 35 auf manchen Strecken nur an einem fehlte: an Leistung und damit an einem Kompressor. Die Antwort waren der Bugatti 35 C (Compresseur) mit einem GP-konformen, aufgeladenen Zweiliter und der 35 T (für Targa Florio) mit auf 2.3 Liter vergrössertem Hubraum ohne Kompressor. Die Leistung lag nun bei 120 bis 130 PS. Doch Bugatti verfeinerte den 35 T nicht nur für die Rennstrecke, schon ab 1925 war eine abgespeckte Version für Privatfahrer mit sportlichen Ambitionen erhältlich, der 35 A mit Gleit- statt Rollenlagern und rund 75 PS. In Anlehnung an billigen Schmuck als Técla bezeichnet, liessen sich diese Rennreplikas bei Klubrennen durchaus siegreich fahren. Als Besonderheit passten auf jeden Type 35, selbst die GP-Wagen, sowohl Beleuchtung wie auch Schutzbleche für die Räder. Dem 35 stellte Bugatti zudem den Vierzylinder Type 37 hinzu. Dieser hatte dasselbe Chassis aber Drahtspeichenräder statt Alufelgen. Der 1.5-Liter leistete als Saugmotor 60 PS, als Kompressorversion deren 90. Am anderen Ende der Skala rangierte der Bugatti 35 B. Hier kombinierte man den 2.3-Liter-Motor mit einem Kompressor. Er erreichte bis zu 215 km/h und beschleunigte in rund sieben Sekunden von 0 auf 100 km/h.
Rennfahrer Louis Chiron testet einen Bugatti 35.
Omnipräsenz
Siege von Philippe Étancelin beim GP von Frankreich oder René Dreyfus in Monaco 1930 demonstrierten über sechs Jahre nach der Lancierung noch die Qualitäten der Konstruktion. Dennoch holte die Konkurrenz auf. Besonders Alfa Romeo zeigte den blauen Boliden aus Molsheim immer wieder das Heck. Allerdings starteten in so vielen Rennklassen rund um den Globus – von Argentinien bis nach Australien – Autos aus Molsheim, dass die Aussage, pro Woche habe man zeitweise 14 Rennsiege errungen, durchaus glaubhaft erscheint. Mit dem Bugatti 51 führte Ettore Bugatti 1931 die Grundideen des 35 weiter. Das Chassis war nahezu identisch, doch nun sorgte ein Motor mit zwei obenliegenden Nockenwellen für noch mehr Leistung.
Erst mit dem grossen Einstieg des ab 1933 faschistisch regierten Deutschland und der Gegenreaktion aus dem ähnlich geprägten Italien, wo Motorsport nun als nationale Aufgabe wahrgenommen und Unsummen an öffentlichen Geldern in die Entwicklung neuer Rennwagen investiert wurden, geriet Bugatti ins Hintertreffen, zumindest bei den sogenannten Grandes Épreuves, den internationalen Motorsportanlässen von höchster Bedeutung. Bei nationalen und regionalen Anlässen aber blieb ein Bugatti während Jahren eine hervorragende Wahl mit guten Aussichten auf einen Tagessieg. Der Umstand, dass selbst ein GP-Wagen mit einer Strassenausrüstung zum Rennplatz gefahren werden konnte, half den damaligen Sportenthusiasten zusätzlich.
Der Schweizer Hans Stuber im rot-weissen T 35 C (Nr. 46) wird Sechster, René Dreyfus mit dem T 35 B (Nr. 22) gewinnt den GP von Monaco 1930, Juan Zanelli im T 35 B (Nr. 14) wird in der 92. Runde ausfallen.
Nur rund 340 Bugatti 35 aller Typen sollen gebaut worden sein, die Spezialisten sind sich darin nicht ganz einig. Kaufen kann man sich ein Exemplar übrigens noch heute, gebaut vom argentinischen Spezialisten Pur Sang in Paranà Entre Ríos. Hier entstehen perfekte Nachbauten der Sportwagen-Ikone bis zur letzten Schraube. Einen winzig kleinen Nachteil haben die Nachbauten aber: Anders als in den 1920er-Jahren, als sich selbst Grand-Prix-Gewinner ganz legal auf der Strasse überführen liessen, wie dies Ettore Bugatti und sein Team zum Auftakt im August 1924 getan hatten, sind die neuen 35er nicht für den Strassenverkehr zugelassen, zumindest nicht hierzulande und mit legalen Mitteln. Dies ist das Privileg des Originals – und das ist gut so!
Seltenes Original Unberührte, authentische Bugatti 35 sind sehr rar geworden. Kompressor-T-35-C von 1928 mit viel Patina.
Targa Florio Mit einem auf 2.3 Liter vergrösserten Motor machte der Bugatti 35 T 1925 den Auftakt zu einer bis 1929 anhaltenden Siegesserie der Molsheimer beim berühmten Strassenrennen auf Sizilien.
Dominant Jules Goux erreichte das Ziel der Targa 1926 hinter den Kollegen Meo Costantini und Ferdinando Minoia.
Wieder Sizilien Emilio Materassi beim Boxenstopp mit seinem Kompressor-Bugatti 35 C bei der Targa Florio 1927.
Frauenpower Auch Damen führten den Bugatti 35 zum Erfolg. Allen voran etwa die Tschechin Elisabeth Junek (Eliska Junkova). Sie belegte bei der Targa 1928 – hier am Ziel auf der Bordwand ihres T 35 B sitzend – den fünften Schlussrang.
Rennfahrer Selbst Herbert Müller (l.), Jo Bonnier (im Auto) oder Jo Siffert (r.) liess in den 1960er-Jahren ein alter Bugatti T 35 – hier mit voller Strassenausrüstung – nicht kalt.
Fotos: AR-Archiv, Bugatti Automobiles S.A.S.
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