Wenn Kurt Infanger etwas an die Hand nimmt, dann macht er das richtig und gründlich. Als grossem Bewunderer von Eugen Böhringer, dem Rennfahrer, der auf Mercedes zu einer Zeit Erfolge einfuhr, als das Werk offiziell gar keinen Motorsport betrieb, war es für ihn stets klar, dass er irgendwann ein Auto, wie es Böhringer einst fuhr, aufbauen würde. Lange suchte der Zuger und Gründer des Oldtimer-Sunday-Morning-Treffens (OSMT) nach einem guten Basisfahrzeug für seinen Plan, Böhringers Siegerauto der Rallye Lüttich–Sofia–Lüttich von 1963 nachzubauen. Vor fünf Jahren wurde er schliesslich fündig, als ihm ein rostfreier Mercedes W113 in die Hände geriet.
Martin Sigrist | 21.03.2024
Lüttich–Sofia–Lüttich im Jahr 1963: Der Gewinner hiess Eugen Böhringer, das Auto war ein Mercedes W113 Pagode.
Mercedes-Leidenschaft
Exakter Nachbau Das Original ist verschollen, doch dank der Schilderungen Eugen Böhringers (1922–2013) und einer guten Dokumentation war es möglich, den Siegerwagen des Marathon de la Route 1963 recht präzise nachzubauen.
Es folgte eine aufwändige Restauration mit einigen spezifischen Modifikationen. Augenfällig ist etwa der Fernscheinwerfer anstelle des Mercedes-Sterns im Kühlergrill. Darüber hinaus erhielt Infangers SL auch ein sehr seltenes ZF-Fünfganggetriebe, das im Werk extra für den Enthusiasten nach altem Vorbild nachgebaut wurde. «Das hatte Böhringer allerdings noch nicht», erklärt Infanger. Böhringer musste sich damals mit einem Viergänger begnügen. Der als Schongang ausgelegte fünfte Gang – es gab für die Pagode auch die Möglichkeit für fünf Gänge bei gleicher Endübersetzung wie beim Vierganggetriebe – schont die Maschine. Und die Sitze im klassischen Karomuster, nun besser gepolstert und mit Kopfstützen ausgerüstet, schonen nun die Menschen, die gemäss Plan sehr lange auf ihnen sitzen sollten: das Ehepaar Kurt und Susi Infanger. Der Wagen mit Hardtop hat kein Verdeck. «An dessen Stelle habe ich Platz für Werkzeug und Ersatzteile, das Dach bleibt sowieso ständig montiert», sagt der Besitzer.
Die Feuerprobe erlebte der rote 230 SL bei einer Langstreckenfahrt von Hamburg (D) nach Hongkong (China). Wir haben 2018 die Rückkehr des Wagens – so wie er aus dem Container gefahren kam – beschrieben. Die einzigen Schäden waren eine eingedellte Reserveradmulde und eine gerissene Tachosaite. Die grösste Enttäuschung war damals für Kurt Infanger der Pflegezustand des Mercedes bei der Rückkehr von seiner Reise, die durch Tibet und gar bis zum Fuss des Mount Everest geführt hatte: Jemand hatte es gewagt, das Auto in Hongkong zu waschen! All der schöne Staub und die Spuren des grossen Abenteuers waren weg. Kurt und Susi Infanger nahmen dafür unzählige Erinnerungen mit nach Hause.
2018 erlebte das Auto seine Feuerprobe, bei einer Langstreckenrallye von Hamburg bis nach Hong Kong.
Die Freude an echten Kampfspuren kommt nicht von ungefähr. Kurt Infanger hätte es gern gesehen, wenn es anlässlich der Fotofahrten für diesen Beitrag zu einer schönen, staubigen Schotterpiste gereicht hätte. Eine Pagode, die reichlich Staub aufwirbelt, wäre ganz nach Infangers Geschmack gewesen. Damit unterstreicht der Besitzer die Tauglichkeit dieses lange etwas belächelten Sportwagens für weit mehr als etwas Cruisen auf dem Boulevard. Denn die Pagode ist nicht langsam, der 2.3-Liter-Motor mit Benzineinspritzung brachte den Wagen damals schon auf 200 km/h. Allerdings erreichte er diese Geschwindigkeit ohne den in den 1960er-Jahren üblichen Radau, ohne durchschlagende Blattfedern und ohne Klappern aus riesigen Türspalten wie bei manchem englischen Roadster. Der einst als zu weich verschriene Mercedes W113 überstand, wie eine erneute Begegnung mit ihm zeigte, die Jahre hervorragend. Und was ihn ihm steckte, das bewies er schon im Sommer 1963, als er offiziell noch gar nicht richtig existierte.
Fahrerauto Als Eugen Böhringer mit einem 230 SL W113 sich zum Marathon de la Route im August 1963 angemeldet hatte war das Auto offiziell noch gar nicht auf dem Markt.
Lüttich–Sofia–Lüttich
Als Marathon de la Route startete 1931 erstmals eine extreme Langstreckenrallye von Lüttich (B) nach Rom und zurück. Meist wurde die Distanz von rund 3500 Kilometern am Stück gefahren oder nur von einer kurzen Rast von wenigen Stunden unterbrochen. Der Zweite Weltkrieg bedeutete eine Zäsur, ab 1950 startete das Rennen erneut. Zu den Gewinnern zählten die grössten Namen des damaligen Motorsports. Nach 1960 – Gewinnerin in diesem Jahr war Pat Moss, die Schwester von Stirling Moss, auf einem Austin Healey 3000 Mk 1 – entschied das Rennkomitee aufgrund des stetig gewachsenen Verkehrs auf den bisherigen Routen der Rallye und auch zur Erneuerung der Veranstaltung, ein völlig neues Ziel anzusteuern: Bulgarien mit dessen Hauptstadt Sofia.
Das war bemerkenswert, bedeutete dies doch den Eisernen Vorhang zu durchdringen und mit dem Renntross ein kommunistisches Land des Ostblocks anzusteuern. Die Durchquerung Jugoslawiens war zudem eine besondere Herausforderung. Das Ansinnen der Veranstalter, wieder mehr auf einsamen Landstrassen zu fahren, neue Routen zu finden und damit die seit den 1950er-Jahren eingefahrene Routine etwas aufzubrechen, ging voll auf. Allerdings waren es auf der neuen Strecke nun rund 5500 Kilometer, die es bei dieser Mischung aus Rallye und Strassenrennen zu bewältigen galt – wahrlich ein Marathon.
Das erste Rennen nach Sofia und zurück im Jahr 1961 ging auf das Konto der Belgier Lucien Bianchi und Georges Harris auf einer Citroën DS 19. Im Jahr darauf aber stand ein Mercedes zuoberst auf der kurzen Rangliste mit nur 18 Einträgen: Eugen Böhringer und Beifahrer Hermann Eger hatten das Rennen mit 53 Strafminuten beendet. Auf Rang zwölf lag ein zweiter Mercedes, wie jener von Böhringer eine Limousine vom Typ 220 SEb W111, gefahren von der Schwedin Ewy Rosqvist und Co-Pilotin Ursula Wirth. Auch ein Schweizer Team konnte sich 1962 rühmen, die Ziellinie erreicht zu haben: Die Romands Jean-Jacques Thuner und John Gretener brachten ihren Triumph TR4 auf Rang neun. Die Zahl der ausgefallenen Teams überragte jene der Finisher allerdings um ein Vielfaches, 82 Wagen mussten unterwegs aufgeben.
1963 trat Vorjahressieger Eugen Böhringer erneut mit einem Mercedes an. Diesmal sollte es aber statt des bewährten 220ers ein Vorserienwagen sein, ein Auto, das keine sportliche Vorgeschichte hatte und für das es auch keine Erfahrungswerte gab. Der neue Mercedes, vorgestellt am Genfer Autosalon im März desselben Jahres, sollte erst zur IAA in Frankfurt (D) im Herbst offiziell in den Verkauf gelangen. Zum Marathon de la Route 1963 von 27. bis 31. August war jedoch schon ein 230 SL, ein W113 mit der Chassisnummer 14, gemeldet. Zu diesem Zweck erhielt der offene Roadster ein fest verbundenes Hardtop, einen grösseren und stärkeren Motor mit 2.6 statt 2.3 Litern Hubraum und 170 statt 150 PS sowie drei Zusatz-Fernscheinwerfer, einer davon statt des Mercedes-Sterns mittig im Kühlergrill angeordnet. Dazu gab es eine verstärkte Federung für die auf dem Balkan über weite Strecken unbefestigten Strassen und grössere Tanks. Ein Überrollkäfig war nicht vorgesehen, immerhin konnte sich der 230 SL rühmen, der erste Sportwagen mit einer Sicherheitsfahrgastzelle und vorderer und hinterer Knautschzone zu sein.
Der brandneue Wagen hielt der Tortur stand, der bald darauf aufgrund des Designs des Hardtops als Pagode bekannt gewordene Mercedes gab einen fulminanten Einstieg. Und mit seiner über 90-stündigen Siegesfahrt sicherte sich Eugen Böhringer einen Eintrag in der ewigen Liste der grössten Helden des Motorsports.
Das originale Rallyeschild Böhringers hängt bei Kurt Infanger nun in einer Nische, die dem Rennen von 1963 gewidmet ist.
Die Plakette «V» für den «Vainceur» des Marathon de la Route von 1963, extra für Böhringer graviert.
Memorabilia und mehr
Recht unscheinbar hängt das originale Rallyeschild von Eugen Böhringers Mercedes 230 SL in einem Bilderrahmen in einer Nische in Kurt Infangers Wohnung. Es brachte die gesamte Strecke von Lüttich nach Sofia und zurück mit Klebeband befestigt auf der Motorhaube zu. Das wertvolle Stück wieder auf die Haube seines Tribute-Cars zu kleben, dazu ist es Kurt Infanger viel zu schade. Das originale Auto hingegen ist verschollen, es wurde vermutlich nach einem Unfall verschrottet, allerdings tauchen stets wieder Meldungen auf, der Böhringer-Wagen sei zum Vorschein gekommen. Meldungen, die im Nachgang zu den jüngsten Ereignissen, den Fälschungsvorwürfen zum Vorgänger der Pagode, noch weniger glaubhaft erscheinen als in früheren Jahren.
Irgendetwas anderes zu behaupten, als was Tatsache ist, liegt Kurt Infanger im Zusammenhang mit seiner Pagode völlig fern. Was ihn
fasziniert, sind die Art des Fahrens mit diesem Mercedes und die unglaubliche Geschichte des Siegs beim damals längsten Strassenrennen Europas. Man kann den Mann gut verstehen, besonders wenn es einem vergönnt ist, selber im Auto Platz zu nehmen. Dies ist ein Wohlfühlort, in diesem Wagen lässt es sich hervorragend aushalten. Kein Wunder, brachten Kurt und Susi Infanger die riesige Distanz von Hamburg bis Hongkong so gut hinter sich. Und vermutlich lag in der komfortablen, sehr modernen Art des Sportfahrens mit der Pagode auch das Geheimnis, wie Böhringer und sein Beifahrer von 1963, Klaus Kaiser, ihre 5500 Kilometer lange Tortur so wohlbehalten überstanden.
Besser gepolsterte Sitze mit originalem Stoffbezug und Kopfstützen machen den SL langstreckentauglich.
Der Quasi-Vorgänger 300 SL W198 war im Prinzip ein strassentauglicher Rennwagen, entstanden auf Empfehlung des damaligen US-Importeurs Max Hoffman, den für Sportwagenrennen entwickelten W194 mit Gitterrohrrahmen in ein Serienfahrzeug zu verwandeln – mit manchen Eigenheiten wie dem tückischen Fahrwerk mit Pendelachsen. Die Pagode, der W113, aber begründete eine völlig neue Form des Sportwagens. Dies schloss Komfort, eine leichte Bedienung, später gar Annehmlichkeiten wie ein automatisches Getriebe nicht aus. Und wo beim 300er mit Einschränkungen zu rechnen war, etwa bei der Ergonomie, der Belüftung oder aufgrund von Kompromissen, die der Konstruktion mit Gitterrohrrahmen geschuldet waren – die breiten Einstiege und mächtigen Schweller selbst beim diesbezüglich im Vergleich zum Flügeltürer signifikant verbesserten Roadster –, war die Pagode von Anfang an ein richtiger Mercedes. Er bietet eine perfekten Sitzposition, einen leichten Einstieg, perfekte Verarbeitung und technischen Lösungen bis hin zu Heizung und Lüftung, die von Beginn weg ausgereift und routiniert konstruiert waren.
Und, ein sehr wichtiger Aspekt beim W113, die Pagode sah aus wie kein anderes Auto, aber dennoch unzweifelhaft wie ein Mercedes. Das schnörkellose Design von Paul Bracq sollte bei Mercedes eine ganze Modellgeneration prägen. Vom Designer wurde der W113 zwar als maskulin angesehen. Die Pagode wirkt jedoch im Kontext moderner Autos heute eher zierlich, zurückhaltend – und sehr elegant.
Technische Daten
Mercedes-Benz W113, 230 SL 1964
Motor Typ M 127.II, R6 vorne längs, OHV, Bohrung×Hub: 82×72.8 mm, 2306 cm³, 150 PS bei 5500 U/min, 196 Nm bei 4200 U/min. Mechanische Benzineinspritzung Bosch.
Antrieb Hinterräder, 5-Gang-Schaltgetriebe ZF.
Fahrwerk Vorne doppelte Querlenker mit Schraubenfedern, hinten Eingelenk-Pendelachse mit Schraubenfedern, Teleskopstossdämpfer, vorne Scheiben-, hinten Trommelbremsen.
Karosserie Roadster mit verschraubtem Hardtop, Stahlblech selbsttragend, 2 Türen, 2 Plätze.
Fahrleistungen 0–100 km/h in 9.7 s (5-Gang-Getriebe), Höchstgeschwindigkeit 200 km/h.
Stückzahl Mercedes W113, alle Modelle, 48 902 Stück, 1963–1971.
Preis 1963 rund 25 000 Franken.
Fotos: Vesa Eskola
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