Unter den Grossen der Eigenwilligste

Peter Ruch | 21.03.2024

Vergangene Woche verstarb Marcello Gandini, einer der ganz grossen Autodesigner. Der Italiener schuf nicht nur eine lange Reihe von Meisterwerken, sondern vor allem eine eigene Designsprache. Einen echten Gandini erkennt man sofort.

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Und dann schuf er den Lamborghini Miura. Marcello Gandini, geboren am 26. August 1938 in Turin (I), war kaum 28 Jahre alt und kurz zuvor zu Bertone gestossen, als er Anfang 1966 sein erstes Meisterwerk schuf. Selbstverständlich war es nicht sein Werk allein, es gab klare Vorgaben der Lamborghini-Genies Gian Paolo Dallara und Paolo Stanzani: Radstand, Spurweiten, Mindest­höhe, Lage des Motors. Doch selbst der alte Kämpfer Nuccio Bertone sei erstaunt gewesen, mit welcher Leichtigkeit der junge Mann Proportionen von ewiger Schönheit geschaffen habe. In jenen Jahren eroberten die Mittelmotor-Rennwagen Le Mans – Gandini adaptierte deren Form für die Strasse und steigerte sie ins Extreme.

Die reine Lehre

Gandini sagte von sich: «Ich kann gar nicht zeichnen. Ich studierte nie Design, ich liebe es einfach, Autos zu entwerfen, und hatte Glück damit. Das macht mich glücklich.» Vater Marco Gandini, Orchesterdirigent, hatte eine andere Karriere für seinen Sohn vorgesehen, doch dieser pflegte schon damals seinen eigenen Willen. Aller Anfang war schwer, 1963 bat er Bertone um eine Anstellung, doch der gleichaltrige Giorgetto Giugiaro war dagegen. Erst als jener zu Ghia wechselte, war der Weg frei für Gandini. Zum Vorteil gereichte dem Turiner, dass er nicht bloss schöne Träume hatte, sondern auch etwas von Technik verstand. Es heisst, als 16-jähriger habe er einst statt eines Lateinbuchs die Schrift von Dante Giacosa, dem genialen Fiat-Konstrukteur gekauft. «Gandini vereinte in seinen Entwürfen ein tiefes Verständnis der Technik mit der Faszination des Kreativen», beschrieb ihn Silvia Baruffaldi, Chefredakteurin von «Auto e Design», in ihrem Nachruf: «Hinter seiner extremen Reserviertheit, mit der er sich der allgemeinen Suche nach maximaler Medienpräsenz entzog, steckte eine riesige Passion für Autos.»

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Sportwagen zeichnete Marcello Gandini am besten, der Miura war sein erster und sogleich äusserst viel beachteter und erfolgreicher Wurf.

Gandinis Zeit bei Bertone war grossartig. Mit den Konzeptfahrzeugen Lamborghini Marzal (1967), Alfa Romeo Carabo (1968) und vor allem dem Lancia Stratos Zero (1970) definierte er mit der Keilform eine neue Formensprache. Der Carabo hatte erstmals Scherentüren, die wie die Keilform beim Lamborghini Countach (1971) dann in die Serie übertragen wurden. Als am 11. März 1971 am Genfer Autosalon morgens um zehn Uhr das Tuch vom Countach LP500 gezogen wurde, blieb die Welt des Automobils für einige Minuten stehen. Wer den gelben Prototyp auf dem Bertone-Stand sah, wusste, es würde nichts mehr sein wie vorher. Noch nie hatte die Autowelt ein solches Fahrzeug gesehen, dieser erste Entwurf, knallgelb lackiert, war frei von Spoilern, Schwellern und sonstigen Wucherungen. Es war ein Faustschlag gegen die Sehgewohnheiten, absolute Aggressivität, brutale Funktionalität, unendliches Charisma. Und vor allem: die ganz reine Lehre, ein Rückzug in die Askese.

Innovativ - und konservativ

Die Verbindung von Gandini und Lamborghini war wohl die fruchtbarste überhaupt, neben dem Miura und dem Countach entsprangen ihr auch der Espada (1968), der Jarama (1970), der Urraco (1971) und, einiges später, der Diablo (1990). Doch auch bei Maserati hinterliess der Turiner mit dem weiterhin unterschätzten Khamsin einen tiefen Eindruck, er schenkte Alfa Romeo den Montreal (Serie ab 1970), aus seiner Feder stammten die eigenwilligen Ferrari Dino 308 GT4 (1973) und ­Fiat X1/9 (1973). Doch Gandini konnte auch ganz brav sein, der BMW 2500 (1969), der BMW 520 (1972) und der Audi 50 (1975) gingen auf ihn zurück, ebenso der sehr konservative Fiat 132 (1972) und der innovative Mini Innocenti 90/120 (1974).

Ende der 1970er-Jahre zog sich Gandini bei Bertone zurück, kaufte sich eine historische Villa im Susatal westlich von Turin. Dort arbeitete er vollkommen allein, ohne Sekretärin oder Assistenten. Er brauchte diese Askese, um dem Gegenstand nicht nur eine Form zu geben, sondern auch um den Nachweis der Funktion zu erbringen, eine Fähigkeit, die ihn dafür prädestinierte, schon vorhandene Modelle zu modernisieren und zu perfektionieren. Wie den Fiat 131 Rally (1976), mit dem er aus einer braven Familienlimousine einen Rallye-Weltmeister machte. Noch erfolgreicher war Gandini mit dem Renault Supercinq (1986) mit 3.5 Millionen verkauften Exemplaren. Auch das Design des Citroën BX (1983) stammte von Gandini, wenn auch über einen Umweg, zuerst hatte er für Volvo den Tundra (1979) gestalten wollen, erhielt dafür aber eine seiner wenigen Absagen. Besser lief die Zusammenarbeit mit Alejandro de Tomaso, noch so einem eigenwilligen Charakter, für den er den Pantera auffrischte (1990) und die beiden Maserati-Biturbo-Versionen Shamal (1989) sowie Quattroporte IV (1994) schuf. All diesen Fahrzeugen eigen sind die angeschnittenen hinteren Radläufe, ein typisches Gandini-Merkmal.

Auch Nachtclub-Einrichtungen

Es war aber nicht alles nur grossartig. Ende der 1980er-Jahre geriet Gandini in die Machtspiele zwischen Romano Artioli und Paolo Stanzani um die Konstruktion des Bugatti EB110. Artioli zockte vor allem Stanzani ab, Gandinis Rolle blieb unklar. Gandini verkaufte Entwürfe mehrfach, die Ähnlichkeiten zwischen den Bugatti-Entwürfen, dem Cizeta-Moroder V16T und dem Lamborghini Diablo sind frappant. Das war dem sonst so guten Ruf des Italieners nicht zuträglich, er geriet in die Kritik und zog sich immer stärker in die Abgeschiedenheit des Susatals zurück. In den 1990er-Jahren entwarf er auch Helikopter oder Nachtclub-Einrichtungen, und es wurde immer schwieriger, mit ihm in Kontakt zu treten. Die Tochter übernahm das Management und versuchte, den Ruhm zu Geld zu machen. Vor zwei Jahren, als der neue Countach vorgestellt wurde, zerstritten sich die Gandinis wegen ein paar Euro dann auch noch mit Lamborghini.

Marcello Gandini verstarb am 13. März in Rivoli. Er wird in Erinnerung bleiben als einer der grössten Automobildesigner überhaupt – und unter diesen war er wohl der eigenwilligste, wildeste, in seiner Kreativität und seinen Gedanken freieste. Auch wenn besonders seine Sportwagenentwürfe oft aggressiv wirkten, so war er doch mehr der ­Poet, der grosse Philosoph unter den Designern. Er pflegte guten Kontakt zu seinen Berufskollegen, schätzte deren Qualitäten und wurde trotz seiner Eigenwilligkeit allseits verehrt. Und obwohl in den vergangenen Jahren nicht mehr viele seiner Entwürfe umgesetzt wurden – Gandini skizzierte bis in seine letzten Lebenstage –, so setzte er sich doch auf der Strasse ganz viele Denkmale. Und alle sind sie sofort als Gandini erkennbar – was man von den Autos vieler anderer Designer nicht behaupten kann. 

Fotos: Archiv AR, Vesa Eskola

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