Nationale 7, die Ferienstrasse

Jean-Marc Kohler | 21.12.2023

«Route des vacances qui traverse la 
plus belle partie d’la France», sang Charles ­Trénet 1955. Knapp 70 Jahre später entdecken wir im Oldtimer die Route Nationale 7 neu.

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Orange, der römische Triumphbogen, ein beliebtes Fotosujet.

Reisen mit dem Klassiker

Die richtigen Michelin-Karten liegen bereit, die einzelnen Etappen sind bestimmt und die Hotels reserviert. Das Auto sollte keine Probleme bereiten nach einer grossen Revision, die das Wechseln der Bremsen, des Anlassers und des Scheibenwischermotors beinhaltete. Und im Kofferraum liegen jene Ersatzteile, die einem dieses gewisse Extra an Sicherheit geben, selbst wenn sie wohl während der ganzen Reise unberührt bleiben. Zu ihnen gesellt sich noch einiges an Gepäck, und wir sind bereit für unsere grosse Reise. Das Ziel ist die legendäre Strasse in den Süden, die in den 1950er- und 1960er-Jahren, vor dem Bau der Autobahn, jeden Sommer Hunderttausende von Franzosen aus dem Grossraum Paris unter die Räder nahmen, die Route Nationale 7. Unser Reisebegleiter ist ein stilgerechter 1953er-Peugeot 203 Découvrable, eine seltene Cabriolimousine. Auf zu einem grossen, unvergesslichen Erlebnis!

Die erste Etappe der Tour führt uns nach Paris. Wir rechnen mit zwei Tagen, um die französische Hauptstadt via N6 über Chagny zu erreichen. Am 9. Oktober um sieben Uhr morgens fahren wir in Val-de-Ruz im Kanton Neuenburg los. Mittagessen gibt es in Meursault, genau gegenüber liegt, in Trümmern, von Brombeeren überwuchert und kaum sichtbar, das Relairoute. Früher war dieses Restaurant 24 Stunden an sieben Tagen in der Woche geöffnet. Die Eröffnung der Autobahn 1972 bedeutete seinen Untergang. Kinofreunde werden es, intakt und im Winterkleid, im Filmklassiker «Vier im roten Kreis» von 1970 mit Alain Delon, Gian Maria Volonté und André Bourvil wiederfinden. Im Winter ist die Ebene des Morvan oft eisig, der Aufstieg nach La Rochepot keine Kleinigkeit – genauso wie der Abstieg! Die Etappe endet in Saulieu nach 290 Kilometern.

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Uns werden noch viele geschlossene Tankstellen begegnen. Die Eröffnung der Autobahn brachte die N7 ins Abseits.

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Peugeot 203 Découvrable mit Darl'Mat-Motor und rund 60 PS (statt 45!).

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Die Route Bleue, die ehemalige Ferienstrasse N7 in den Süden.

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Begegnung mit einem Bentley R-Type Continental in Saulieu.

Am 10. Oktober steht uns eine Strecke von 263 Kilometern bevor, die uns über Auxerre, Sens, Fontainebleau nach Paris Créteil führen wird. In Cussy-les-Forges schiessen wir ein Foto des ersten Courtepaille-Restaurants, mit seinem Strohdach war es die französische Version eines American Diner. Das Gebäude steht zum Verkauf, Covid gab der Kette den Rest, alle 130 Filialen wurden dieses Jahr geschlossen. Mit ihnen verschwindet ein weiteres Symbol der Trente Glorieuses, wie der Wirtschaftsaufschwung in Frankreich zwischen 1945 und 1975 genannt wird.

Wir schlendern zu Fuss durch Auxerre und essen später in Sens, ein Besuch der Städte, die unseren Weg säumen, ist reizvoll. Auch früher bedeutete zu reisen nicht einfach, durch die Landschaft zu rasen! Unsere Strasse nach Paris, die ehemalige N6, trägt heute verschiedene Bezeichnungen und wurde zwischen Melun und Créteil über 15 Kilometer als Teil der Francilienne, des dritten Strassenrings rund um Paris, sogar zur Autobahn – ein Albtraum in Sachen Verkehrsaufkommen!

Endlich auf der Nationale 7

Fast alle alten, französischen Routes Nationales nehmen ihren Anfang auf dem Platz vor der Kathedrale Notre-Dame in Paris, hier liegt ihr Kilometer null, so wie jener des Schweizer Eisenbahnnetzes im Bahnhof Olten SO liegt. Deshalb befindet sich der wahre Startpunkt unserer siebentägigen Reise entlang der Originalroute der Nationale 7 ebenfalls hier auf der Île de la Cité, mitten in Paris. So gut wie nur möglich, soll unser Weg der alten Strasse folgen, aber schon nach sieben Kilometern werden wir in unserem alten Peugeot durch ­einen chaotischen Stau zu einer Alternativroute gezwungen. Kurz nach Orly wollen wir der Sieben wieder folgen. Das GPS lässt uns kläglich hängen, so ist es die altmodische Strassenkarte, die uns aus der Bredouille hilft und uns nach Fontaineblau und zurück auf die Route bringt! In Briare steht die Kanalbrücke von Gustave Eiffel. Kurz davor, in Dordives, begegnen wir tatsächlich einem Relais Routier, das noch immer in Betrieb ist. Leider verschwinden diese Zeitzeugen früherer Tage immer häufiger. Zwar nutzen viele Lastwagen noch heute lieber die Routes Nationales statt der gebührenpflichtigen Autobahnen. Aber das Essen stammt oft aus der kleinen Bordküche statt aus einem dieser Gast- und Rasthöfe. Ein Fotohalt beim Relais des 200 Bornes in Pouilly-sur-Loire ist also Pflicht. Bornes sind die weiss-roten Kilometersteine am Strassenrand. Das Relais des 100 Bornes zu suchen, ist zwecklos, es ist längst verschwunden und dieses hier schmerzt beim Anblick. Die Tankstelle ist leer, das Gebäude dahinter ebenso, die Zukunft ungewiss. Gerüchteweise soll eine Fastfoodkette einziehen – Dekadenz im Vormarsch.


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Einer der letzten, vierseitigen Wegweiser, die Michelin in Frankreich damals hat auf eigene Rechnung aufstellen lassen.

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Thierry Dubois ist Comicszeichner und Fan der N7, er und viele Oldtimerfans lassen alle zwei Jahren den Ferienstau auf der N7 in Lapalisse wiederauferstehen. Ein Beispiel seiner Kunst.

In Nevers, 236 Kilometer von Paris entfernt, zeigt der Tageszähler des Peugeot fast 300 Kilometer, schuld ist die Irrfahrt zu Beginn des Tages. Der Umstand, dass die N6 und N7 zwischen Paris und Lyon eine liegende Acht bilden und sich in Fontainebleau überschneiden, lässt es ratsam erscheinen, mit einem Klassiker die Reise dort zu starten und sich das Pariser Verkehrschaos zu ersparen.

Die Wiederauferstehung eines Staus

Am Donnerstag, 12. Oktober, führt unsere Etappe über 146 Kilometer über Moulins, Lapalisse und Roanne. In Magny-Cours waschen wir den 203, während von der nahen Rennstrecke die Motoren zu hören sind. Einem kurzen Stadtrundgang durch Moulins mit seinen Baudenkmälern folgt die Fahrt nach Lapalisse, einem Flaschenhals und in den 1960er-Jahren gefürchtet wegen stundenlanger Staus. Die Autobahn brachte auch diesen zum Verschwinden – bis der Comiczeichner und Autofan Thierry Dubois wieder zum fröhlichen Staustehen in Lapalisse aufrief. Alle zwei Jahre wird seither an einem Donnerstag im Oktober pünktlich zum Mittag der Stau zelebriert – mit allem, was sich auf Strassen bewegt und aus den 1960er-Jahren oder früher stammt!

In St-Prix vor dem Restaurant de l’Etape Bleue wird der Reisende auf einer Tafel darauf hingewiesen, dass ein Drittel der Nationale 7 bereits absolviert sei. In Roanne steigen wir im Château de Matel ab, das für kurze Zeit André Citroën gehörte. Schon ein halbes Jahr nach dem Kauf 1919 stiess er es (bis auf 150 von 183 Hektaren Land) wieder ab. Die Käufer waren keine Geringeren als die Brüder André und Edouard Michelin, bekannt für Reifen und den Guide Michelin.

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Monumentale Uhr in Tassin-la-Demi-Lune

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In Loriol-sur-Drôme überrascht ein Wandbild zur N7.

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Valence, le Relais du Sud, eine alte ANTAR-Tankstelle von 1937.

Am Freitag dem Dreizehnten heisst unser Ziel Lyon. Die Etappe ist nur 78 Kilometer kurz, beinhaltet aber mit dem Col du Pin-Bouchain auf 759 Metern über Meer den höchsten Punkt der Reise und die früher gefürchtete Abfahrt hinunter nach Tarare. In Charbonnières-les-Bains rufen ein alter, vierarmiger Michelin-Wegweiser und die alte Garage du Méridien zum Fotohalt, in Tassin-la-Demi-Lune ist es die monumentale Turmuhr. Mittagessen gibt es an der Place Bellecour in Lyon in ­einer typischen Lyoner Beiz, einem Bouchon Lyonnais. Danach sitzen wir wie Touristen in einem Bus und lassen uns durch die Stadt fahren. Zurück im Auto, knapp zehn Kilometer vom Ziel entfernt in ­einer Steigung nach Fourvière, liegen die Nerven blank. Die Kühlwassertemperatur steigt. Doch der Peugeot hält durch, braves Auto!

Kulinarische N7

Der Samstag, 14. Oktober, bringt uns nach Orange, die Etappe misst 206 Kilometer. Es nieselt, die Scheibenwischer klacken im Takt. Vor Vienne gibt es einen weiteren Fotohalt vor dem Motel des 500 Bornes. Halbzeit – und, welches Glück, das Motel ist noch in Betrieb, komfortabel und bietet gutes Essen! In Valence steht ein anderer Zeuge aus der grossen Zeit der N7, die Antar-Tankstelle des Relais du Sud im Art-déco-Stil aus dem Jahr 1937. Doch hier gibt es kein Benzin mehr, sondern nur das Parking eines Restaurants – das geschlossen ist. Dafür überrascht uns in Loriol-sur-Drôme ein Wandbild zur Vergangenheit der N7, just im richtigen Augenblick kehrt die Sonne zurück. In Montélimar machten sich früher geschäftstüchtige Geister den Ferienstau zunutze und verkauften die Lokalspezialität Nougat direkt durchs Autofenster. Essen war an der N7 stets ein grosses Thema, auf vielen Kreiseln wird auf die Gastronomie entlang der Route hingewiesen. Einer dieser Ronds points ist Charles Trénet gewidmet, dessen Chanson «Route Nationale 7» schon 1955 die Strasse in den Süden feierte. In Piolenc ist das Musée mémoire de la Nationale 7 seit 2021 endgültig geschlossen, ein weiteres Corona-Opfer. Es war 1990 eröffnet worden und ein beliebtes Ziel für alle, die der Nationale 7 folgten. Es scheint, als gehe gerade so manches für immer verloren, welche Schande.

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Nougat aus Montélimar: Früher wurde die Süssigkeit direkt durch das Autofenster an Reisende im Stau verkauft.

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Viel fotografierte, alte Werbeaufschrift auf einer Fassade in Loriol: Les Nougats du Canard Sauvage...

Der Sonntag, 15. Oktober, startet mit astreinen Touristenfotos vor dem berühmten römischen Triumphbogen von Orange. Er hat Bestand, die Brücke von Avignon, die wir danach sehen wollen, steht bekanntermassen nur noch zur Hälfte. Auch das Musée Automobile de Provence in Orgon schloss Anfang 2023 für immer seine Tore, um Platz für eine Überbauung zu machen. Seit 1967 hatte es die N7 mit ihren Autos und Motorrädern und all der Technik jener Zeit gewürdigt. Ein gutes Mittagessen in Aix-en-Provence auf dem Cours Mirabeau hebt unsere Stimmung wieder. Nach ­einem Umweg entlang der Montagne Ste-Victoire, die viele von Bildern des Malers Paul Cézanne kennen, und reichlich langer Fahrt auf der N7 kommen wir beim Hotel La Belle Etape in Brignoles an. Das Zimmer im Fabrikstil hat eine tolle Am­biance – und der Hotelbesitzer fährt einen 2CV Dolly!

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In der Nähe von Fréjus.

Die Etappe von Montag, 16. Oktober, führt über Fréjus und Cannes nach Juan-les-Pins. Wir fahren von Fréjus nach Malpasset, um die Ruinen des Staudamms zu sehen, dessen Bruch am 2. Dezember 1959 um 21.13 Uhr 423 Todesopfer forderte – Zeit, etwas inne zu halten. Reisen bedeutet immer auch, Geschichte zu erleben, nicht nur zu fahren, zu essen und zu schlafen.

Im Massiv de l’Estérel warten 375 Kurven. Der dichte Verkehr der 1950er- und 1960er-Jahre hatte hier so manche Zylinderkopfdichtung auf dem Gewissen, heute aber ist der Weg bis Mandelieu-la Napoule ein Traum, plötzlich zeigt sich hinter ­einer Kurve unerwartet das Meer. Der Peugeot rollt ruhig dahin bis nach Cannes, kaum schneller als 30 km/h.

Am Dienstag, 17. Oktober, folgt der Endspurt nach Nizza und über die Moyenne Corniche bis nach Menton. Nur Touristen scheinen dem Tempolimit zu folgen. In Menton kaufen wir Zitronenkonfitüre und machen ein Bild vom Kilometer null der Route des Grandes Alpes. Wir passieren den Zoll, der heute anders aussieht als 1965 im Louis-de-Funès-Klassiker «Louis, das Schlitzohr». Das Ziel ist erreicht, der Zähler zeigt 995 Kilometer. 

Mehr Lesestoff: C’était la Nationale 7, Thierry Dubois, Editions Drivers, 2010; Eternelle Nationale 7 – Au cœur de la France, Marie-Sophie Chabres und Jean-Paul Naddeo, Editions Gründ, 2010; Nationale 7 – La Route des Vacances, Peter Jacobs und Erwin De Decker, Hachette Tourisme, 2009. Michelin-Karten 312, 319, 320, 321, 326, 327, 332, 340, 341, 552 und 561.

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Am Ziel mit Hilfe von Michelin-Karten und GPS: Der Autor und seine Navigatorin.

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Die Panne ist gestellt, der Peugeot 203 hat sich schadlos gehalten.

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Am Ziel in Menton, mit Umwegen zeigte unser Tacho knapp 1000 Kilometer mehr.

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Nizza, entlang der berühmten Promenade des Anglais.

Schlussbilanz

Die ganze Route Nationale 7 mit einem Klassiker abzufahren, ist ein Abenteuer. Auf ein Netzwerk von Tankstellen und Versorgungsmöglichkeiten darf man sich nicht mehr wie früher verlassen. Viele Relais Routes sind geschlossen, aber manches kleine Restaurant stammt noch aus der grossen, alten Zeit. Wirklich mühsam sind die allerorts sich seuchenartig verbreitenden schlafenden Polizisten in Form von Bodenwellen und Kreisel, die die Durchquerung vieler Orte im alten Auto zur Tortur werden lassen. Der Oktober erwies sich als ideale Reisezeit. Der Verkehr – zumindest der Ferienverkehr – ist gering, umso mehr Lastwagen sind heute abseits der Autobahn unterwegs. Die Versorgung mit Bleifrei 98 (wegen des geringeren Anteils an Ethanol) unterwegs ist genügend. Gut ist es, eine klassische Michelin-Strassenkarte mitzuführen – und sie auch lesen zu können. Das GPS hilft, aber nicht immer mit der nötigen Präzision. Held der Reise war unser Auto. Gut vorbereitet, hielt sich der 70-jährige Peugeot 203 souverän. Dank des Darl’Mat-Motors mit 1500 Kubikzentimetern, der Solex-Doppelvergaseranlage und des Nardi-Auspuffs hielt er gut mit dem Verkehr mit. Es scheint, als hätte sich der alte Franzose in seiner Heimat besonders gut an seine Vergangenheit erinnert und sich dabei sichtlich wohl gefühlt. Vielleicht fahren wir 2024 die N7 gleich nochmals! JMK

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Routes N6 und N7 Zwischen Paris und Lyon bilden sie eine Acht. Nur die N7 führt bis ans Mittelmeer.

Fotos: Jean-Marc Kohler

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