Die Wahl von Europas Auto des Jahres ist seit 1964 eine Institution, ein Ereignis, das in der Automobilwelt seit Beginn für Aufsehen sorgt. Die Wahl wurde von Fachmagazinen verschiedener europäischer Länder ins Leben gerufen, seit der ersten Ausgabe gibt es pro Jahr nur einen Sieger, der den Titel Auto des Jahres tragen darf. Zuletzt wurde der elektrische Jeep Avenger zum Auto des Jahres 2023 gekürt. So prestigeträchtig der Preis sein mag, hängt es am Ende meistens nicht alleine von dieser Auszeichnung ab, ob ein Auto als erfolgreich in Erinnerung bleibt. Ein Blick zurück auf die Anfänge des European Car of The Year beweist, dass einige Modelle wohl die vielfältig zusammengestellte Jury überzeugten, am Markt hingegen weit weniger bewegten, als man hätte erwarten können. Die Gründe reichen von mangelhaftem Marketing bis zu eklatanten Qualitätsmängeln, die in der Einführungsphase eines neuen Modells noch nicht absehbar waren.
Die ersten Autos des Jahres – Perlen und Zitronen
Martin Sigrist | 23.11.2023
Ohne Garantie Seit 1964 wählen Autojournalisten das europäische Auto des Jahres. Meistens mit gutem Gespür, aber nicht immer mit Erfolgsgarantie für die Hersteller der Sieger.
Der Audi 80 holte sich die Auszeichnung 1973. Die Jury liess sich allein von den Eigenschaften des Autos leiten ...
Gewiss gelten nicht alle Autos des Jahres im historischen Rückblick als Fehlgriffe. Im Gegenteil, viele waren epochal oder haben Modelllinien begründet, die bis heute fortgeführt werden. Wahrlich nicht zu diesen Erfolgreichen gehört die Marke Rover, die 2005 unterging. Doch im Jahr 1964 war der neue Rover 2000 des damals vitalen und eigenständigen Unternehmens ein Meilenstein seiner Klasse. Die Karosserie mit tragender Skelettstruktur und verschraubter Beplankung des auch P6 genannten ersten Autos des Jahres war von Citroëns DS inspiriert und die hintere De-Dion-Achse einzigartig in seiner Klasse. Aussergewöhnlich war 1965 auch das zweite Auto des Jahres, der Austin 1800 respektive BMC ADO17 der British Motor Corporation. Wie im Mini war im 1800 der BMC-B-Motor vorne quer eingebaut. Und wie der kleinere ADO16 (Austin 1100) von 1962 besass er die Hydrolastic-Federung, deren Gummifedern hydraulisch verbunden waren. Doch trotz der Wahl zum Auto des Jahres wurde der ADO17 zu einem Teil des Niedergangs von British Leyland.
Kontinentale Sieger
1966 trug mit dem Renault 16 ein französisches Pionierauto die Krone des Auto des Jahres. Der erste Mittelklassewagen mit Heckklappe und variablem Innenraum war epochemachend und Sinnbild für die wachsende Freizeit- und Konsumgesellschaft. Allerdings bewies der Fiat 124 von 1967, dass technische und formale Extravaganz nicht zwingende Voraussetzungen für den Titel waren. Seine schlichte Form war ein früher Verweis auf die pragmatischen 1970er-Jahre, er wurde von Indien bis Russland während Jahrzehnten fast unverändert gebaut.
Der Sieger des Jahres 1968 machte hingegen alles anders als seine Konkurrenten. Mit der Wahl des NSU Ro 80 honorierte die Jury die Parforceleistung des kleinen Autobauers aus Neckarsulm (D). Die Mittelklasselimousine mit ihrem Zweischeiben-Wankelmotor und keilförmiger Karosserie versinnbildlichte die Zukunft wie keine zweite. Ihrer Form folgen noch heute fast alle Limousinen. Beim Motor aber spielten Ölschock, Umweltbewusstsein und Konstruktionsmängel dem Ro 80 hart mit. Den ab 1969 neuen NSU-Eignern VW und Audi verging die Lust am Wankel rasch.
Im selben Jahr fuhr erstmals ein Peugeot als Auto des Jahres von der Bühne. Der 504 zeigte sich formal eigenständig und mit hinterer Schräglenkerachse technisch auf der Höhe der Zeit, zumindest als Limousine. Der Peugeot 504 war ein echter Grosserfolg, in Nigeria wurde er bis in die 2000er-Jahre hinein gebaut. Ähnliches lässt sich auch vom Fiat 128 sagen, dem Gewinner von 1970. Ihm stand nicht nur eine Karriere in Italien bis 1983 bevor, sondern als Zastava in Jugoslawien und später Serbien bis 2008 oder als El Nasr bis 2009 in Ägypten.
Gross und klein
1971 holte Citroëns erster kleiner Mittelklassewagen am meisten Punkte. Das Einliterauto GS brillierte mit dem Fahrkomfort einer Oberklasselimousine. Klein ging es auch im Jahr darauf weiter mit dem Fiat 127, der endlich auch bei Fiats Kernkompetenz, den Kleinwagen, Frontantrieb und wenig später die Heckklappe einführte. Als Muster aller heutigen Klein- und Kompaktwagen machte auch der 127 gross Karriere, bis er von einem weiteren Auto des Jahres, dem Uno aus dem Jahr 1983 (Auto des Jahres 1984) abgelöst wurde. Zumindest in Europa, in Argentinien lebte er bis 1996 weiter.
Im Erdölkrisenjahr 1973 war wieder Deutschland an der Reihe – mit dem Audi 80. Manche seiner Gene finden sich auch noch im aktuellen Audi A4. Die Wahl war damals Sinnbild für die gelungene Wiederbelebung der Marke nach 1965. Mit der Auszeichnung eines Mercedes zum Auto des Jahres 1974 durfte sich endlich auch der älteste aller Autohersteller mit dem Titel schmücken. Die Industrie war in diesem Jahr von den Nachwehen der Ölkrise noch arg gebeutelt. Dass in einer Zeit der Sparmodelle ausgerechnet das Flaggschiff der Baureihe W116, der 450 SE der Mercedes S-Klasse, mit seinem 4.5-Liter-V8-Motor gewählt wurde, war eine starke Ansage. Doch in Sachen Sicherheit setzte der W116 eben neue Massstäbe.
Merkwürdigkeiten
Aus Platzgründen können wir hier nicht auf alle weiteren Autos des Jahres näher eingehen. Die Wahl des Simca 1307/1308 im Jahr 1976 oder die des Rover SD1 im Jahr darauf waren keine Sternstunden. Der SDI war im Vergleich zu seinem Vorgänger P6 ein technischer Rückschritt – und in Sachen beschränkter Haltbarkeit dem Simca ebenbürtig. Andere Preisträger standen jedoch für den Mut oder die Würdigung des Aussergewöhnlichen durch die Juroren, so im Jahr 1975 der Citroën CX oder 1978 der Porsche 928, der erste und bisher einzige Sportwagen überhaupt in der langen Liste der European Cars of the Year. Ein Erfolgsgarant war die Wahl noch nie, aber dass sie eine gute Plattform darstellt, um neue Modelle ins Rampenlicht zu stellen, steht zweifelsfrei fest.
Fotos: Archiv AR
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