Martin Sigrist | 14.12.2023
Last Edition Big is beautiful – doch der Bentley-W12-Motor sieht seinem Ende entgegen. Wir durften seine von Mulliner hübsch verpackte Pracht im Flying Spur nochmals geniessen.
Downsizing allenthalben, sogar die Luxusklasse ist nicht mehr gefeit vor dem Streben, die Hubräume zu verkleinern und den Einfluss auf die Umwelt damit zu reduzieren. Jüngst liess der britische Hersteller Bentley Motors in Crewe (GB) verlauten, dass die Tage seines W12-Motors gezählt seien, 2024 werde die Produktion eingestellt. Mittlerweile sind die Briten innerhalb des VW-Konzerns die einzigen Verwender der Maschine, fortan müssen sich Bentley-Kunden mit dem Vierliter-V8 oder dem 2.9-Liter-V6-Plug-in-Hybrid begnügen, bevor auch bei Bentley das Ende des Verbrennungsmotors eingeläutet werden soll. Übrigens war das heutige Bentley-Werk in Crewe einst als Shadow-Factory errichtet worden, um Rolls-Royce-Flugzeugmotoren zu bauen. Doch wer neben einem imposanten Bentley Flying Spur steht, hat vermutlich anderes im Sinn als den Wandel der automobilen Welt und dessen Folgen. Der Flying Spur ist der schnellste Viertürer des Planeten. Mit einer Leistung von 635 PS erreicht der rund 2.4 Tonnen schwere Wagen die Marke von 333 km/h und liegt damit inmitten einer ganzen Reihe von Supersportwagen. Im Unterschied zu diesen aber transportiert der Bentley seine Passagiere mit einem Maximum an Komfort und unaufgeregter Gelassenheit. Der uns zur Verfügung gestellte Flying Spur Mulliner war ein Viersitzer mit Einzelfauteuils hinten, was diese Version des schnellen 4-Door Saloon noch näher an einen Privatjet rücken lässt.
Hintergrundarbeit
Unter der Motorhaube arbeitet ein gewaltiger Antrieb, die vier Zylinderbänke, je zu zweit zu einer VR-Einheit zusammengefasst und von einem Turbolader versorgt, leisten einen bemerkenswerten Effort, um die Fahrgäste nahezu unbemerkt in Rekordtempo voranzubringen. Der mit einem unterquadratischen Verhältnis von Bohrung und Hub ausgelegte Motor (84×90.2 mm) stemmt sein Drehmoment von 900 Nm bereits ab 1500 U/min auf die Kurbelwelle. Der kompakte W12 baut ähnlich lang wie der mit weniger Hubraum versehene V8-Motor. Doch weder vorne am Lenkrad noch hinten in der Loge braucht man sich ernsthaft um technische Belange zu kümmern. Die Leistung ist da und lässt sich vortrefflich einsetzen, das zu wissen reicht aus. Dabei hilft das Luftfahrwerk des seit 2019 gebauten und auf der VW-MSB-Plattform aufbauenden Flying Spur, sowohl den Zustand der Strassenoberfläche zu verheimlichen wie auch der Person am Lenkrad möglichst wenig darüber mitzuteilen, wie viel Gewicht um die Kurven gestemmt werden soll. Die grosse Überraschung für den Chauffeur ist dabei, wie agil sich dieses Dickschiff fahren lässt. Die Lenkung gibt gute Rückmeldung, und dank Allradlenkung und Torque-Vectoring lässt sich der Bentley mit für sein gesetztes Äusseres ziemlich unbotmässiger Dynamik durch Kurvenkombinationen jagen. Man kann sich allerdings fragen, was der Sinn einer solchen Abstimmung sein soll und ob es nicht schlauer gewesen wäre, angesichts der ausgeprägten Eigenschaft des Flying Spur Mulliner als Chauffeurlimousine noch mehr auf Komfort zu setzen.
Es lohnt sich aber, auf die Anfänge der Marke unter ihrem Gründer Walter Owen Bentley zurückzuschauen. Als der Konstrukteur 1919 seinen ersten 3 Litre in Cricklewood im Norden Londons vorstellte, zeigte er der Welt seine Idee eines schnellen Reisewagens. Die Passagiere sollten mit der Geschwindigkeit eines Sportwagens, aber auch mit dem Komfort einer Limousine unterwegs sein. In der Flut der heutzutage die Mehrheit darstellenden Le-Mans-Style-Bentley mit ihren offenen Tourerkarosserien – die meisten sind Nachbauten – geht manchmal vergessen, dass in Bentleys Frühzeit ein grosser Teil der Chassis mit einer geschlossenen Karosserie versehen war. Mit dem Flying Spur folgt der Hersteller dieser Tradition. Wer also die sanfteste aller Limousinen sucht, den geräuschärmsten Innenraum oder die absurdesten Luxusgadgets, wird vom W12-Bentley vielleicht nicht in jeder Disziplin restlos zufriedengestellt.
Handarbeit
Mulliner heisst Bentleys Spezialist für Massanfertigungen. H. J. Mulliner hatte sich in den 1930er-Jahren zum Hofkarossier von Rolls-Royce und Bentley gemausert, seit 1959 gehört Mulliner dem Unternehmen in Crewe. Mit dem Verschwinden des Rolls-Royce Phantom VI im Jahr 1991 stoppte Mulliner den Bau ganzer Karosserien, nahm ihn allerdings für die Nachbauten des 4½ Litre Blower und des Bentley Speed Six genauso wie für die Sondermodelle auf Continental-GT-Basis, das Coupé Batur und das Cabriolet Bacalar, wieder auf. Daneben pflegt Mulliner das traditionelle Sattlerhandwerk und ist ein Spezialist in der Holzverarbeitung für Automobile. Ein Besuch im Furnierlager von Mulliner kommt jenem in einem Humidor mit ausgesuchten Zigarren recht nah. Aber die Handwerker verarbeiten auch abgehobelten Stein zu Armaturenbrettern, Türfüllungen und vielem mehr. Trotzdem handelt es sich bei unserem Flying Spur Mulliner quasi um Standardware, die in der Bentley-Preisliste steht, selbst wenn die Ausstattung viel reichhaltiger ist als die eines regulären Modells. Bentley betont aber, dass Mulliner im Prinzip jeden Wunsch erfüllen könne.
Über die Farbe unseres Exemplars mag man geteilter Meinung sein, der Innenraum in Nussbaumholz aber zeugt von distinguierter Zurückhaltung und versprüht einen Hauch von altem Adel. Wer sich etwas auskennt, würde sagen, die Holzwahl entspreche mehr der deutschen als der britischen Schule. Wo heute allerdings ein überaus wichtiger Teil der Bentley-Kundschaft zu finden ist, zeigt sich in der etwas überschwänglichen Verwendung von Bling-Bling in der Fülle an Chrom und Elementen, die nach Chrom aussehen sollen, am Armaturenbrett. Hier mögen sich asiatische Kunden wohl noch mehr zu Hause fühlen. Für unseren Geschmack sind aufgesetzte Chromleistchen auf den Kunststofflüfterdüsen hingegen etwas zu viel des Guten. Angesichts der signifikanten Unterschiede der Produktionszahlen von Bentley mit einigen Hundert Exemplaren zur Zeit der Übernahme durch VW im Jahr 1998 und aktuell jährlich rund 16 000 ausgelieferten Wagen mussten wohl auch etwas profanere, dafür in Grossserie gebaute Teile herhalten. Wer die schweren, in reiner Handarbeit aus dem Vollen gefrästen Düsen eines alten Bentley Mulsanne kennt, weiss, was gemeint ist. Dasselbe gilt vermutlich auch für die Tankklappe, die innen ganz profan in mattschwarzem Hartplastik ausgeschlagen und von einem in Fake-Aluminium gehaltenen Deckel gekrönt ist.
Dem Besitzer – oder besser dem Geniesser – kann dies herzlich egal sein. Er erlebt die aufwendig mit Rautenmuster und Stickarbeiten versehenen Ledersessel und das umfangreiche Unterhaltungsangebot im Fond. Sollte es ihm zwischen einer Rückenmassage und dem Genuss eines Netflix-Filmes langweilig werden, kann er die Finger über die hervorragend ausgeführten Nähte sowie fein lackierten und polierten Holzarbeiten fahren lassen. Als Wohlfühlort ist der Bentley Flying Spur Mulliner vermutlich etwas vom Besten, was in der Industrie im Moment zu finden ist. Was beim Traditionsunternehmen Bentley zudem auffällt angesichts der immer einmal wieder auftauchenden Newcomer im Luxusbereich aus dem Reich der Mitte, ist die routinierte und selbstverständliche Art, wie einem hier Luxus aufgetischt wird. Der Versuch, dies hier zu erklären, mag bemüht wirken. Doch am besten lässt sich dieser Eindruck mit einem Vergleich zwischen einem alten, traditionsreichen Luxushotel sowie dessen mit allen Wassern gewaschenen und in jeder Lebenslage souverän bleibenden Rezeptionisten und einer modernen, als Konzepthotel aus dem Boden gestampften Luxusabsteige darstellen, die zwar in vielem glänzt oder sogar besser ist, bei der es aber durchs Band an nonchalanter Lässigkeit fehlt. Im Bentley wir der Überfluss als Selbstverständlichkeit gehandelt, die Ansprüche der Kunden sind nicht aussergewöhnlich, sondern sie gehören einfach zum Programm dazu, ohne hinterfragt zu werden. Dazu passte bisher auch der Motor, doch fortan gilt es ausgerechnet hier, Abstriche zu machen.
Der Urgedanke
Die Urform vieler Dingen ist meist die reinste und am wenigsten von äusseren Zwängen kompromittierte. Beim Bentley ist das auch so. Als der Continental GT 2003 die neue Ära unter Volkswagen in Crewe einläutete, war der neue Grand Tourer selbstverständlich mit dem Sechsliter-W12-Motor ausgestattet, und die Welt war der Meinung, dass dies genau der richtige Antrieb für diesen Wagen sei – ausser die Traditionalisten, die lieber am alten, von Rolls-Royce stammenden L410 V8 mit 6¾ Litern Hubraum festhielten. Diese Maschine ging 2020 mit dem letzten Bentley Mulsanne in Pension. Nun trifft es also auch den inzwischen als vollwertigen Bentley-Motor akzeptierten W12. Gewiss, Bentley stellt die inneren Werte für die Passagiere, den Fahrkomfort und die dynamischen Qualitäten des Chassis über die Qualitäten des Motors – angesichts des künftigen, herben Verlustes muss das sogar so sein. Andererseits gab es schon recht bald Kenner, die besonders auch im Continental GT die Eigenschaften des V8 jenen des W12 vorzogen. Seine wesentlich geringere innere Reibung und generelle Auslegung machen ihn auch nicht unbedingt zur lahmen Ente im Vergleich zum grösseren Bruder. Der V8 gilt sogar als echter Geheimtipp.
Den sich in jeder Hinsicht als Notlaufprogramm darstellenden V6-Motor mit Plug-in-Hybrid lassen wir aussen vor. Er wirkt ohnehin nur wie ein Vernunftentscheid. Aber wer weiss, die Liebe fällt manchmal an seltsame Orte, und Bentley wird seine Gründe haben. Wenn man die reinen Zahlen betrachtet, dann scheinen die Briten unter deutscher Führung alles richtig zu machen. Räumt man aber den Gefühlen bei seinen Entscheidungen oberste Priorität ein, ist der künftige Wegfall des W12 ein unverzeihlicher Verlust. Um diesen wettmachen zu können, muss in Zukunft ein Elektroauto der ganz besonderen Extraklasse daherrollen. Der V8 und der V6 sind auf diesem Weg des Wandels also nur Lückenbüsser. Wer die nötigen Voraussetzungen erfüllt, sollte sich womöglich noch einen Bentley alter Schule besorgen und ihn zur Seite stellen.