Polestar 4 im Fahrbericht: Verzicht ohne Verzicht

Klaus Justen | 04.07.2024

SUV-Coupé Der Pole­star 4 präsentiert 
sich als elegante ­Mischung aus grosser ­Limousine und SUV. 
Der Verzicht auf die ­Heckscheibe polarisiert – aber trübt er den Alltag?

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Automobildesign und Abseitsentscheidungen im Fussball haben eines gemeinsam: Es lässt sich vortrefflich und endlos darüber streiten. Wer in einer Diskussion unter Autoexperten die Stichworte Pole­star 4 und Heckscheibe fallen lässt, ist schnell in eine heisse Diskussion verwickelt, die ein wenig daran erinnert, wie vor gut 20 Jahren Chris Ban­gles 7er-BMW zerrissen wurde.

Mit dem Pole­star 4 erweitert die schwedische Geely-Tochter innerhalb kürzester Zeit ihr Produktportfolio, der 4 startet praktisch zeitgleich mit dem grossen SUV Polestar 3 (AR 25/2024). Chefdesigner Maximilian Missoni hat ein sehr elegantes SUV-Coupé mit rahmenlosen Scheiben und versenkten Türgriffen, mehr als 4.80 Metern Länge und einem Luftwiderstandsbeiwert von 0.26 gezeichnet, das in seinem Auftritt auch den Eindruck einer grossen Businesslimousine vermittelt. Um die klassische Schwachstelle einer solchen, coupéhaft abfallenden Dachlinie zu vermeiden – nämlich beengte Kopffreiheit auf den hinteren Plätzen und damit eingeschränkte Nutzung für erwachsene Passagiere –, hat Missoni die Dachlinie weit nach hinten gezogen.

Mit einer klassischen Heckscheibe hätte das, vereinfacht gesagt, dazu geführt, dass im Innenspiegel praktisch nichts zu erkennen gewesen wäre. Also entschied sich Polestar für die radikale Lösung: Es gibt keine Heckscheibe. Damit die Fondpassagiere nicht im Dunkeln sitzen, zieht sich das serienmässige Panoramaglasdach bis ganz hinten über die Köpfe und sorgt für einen luftigen, hellen Innenraum. Um dem Fahrer neben den beiden Aussenspiegeln den Blick zurück zu ermöglichen, arbeitet der Pole­star 4 mit einem Kamerasystem des US-Herstellers Gentex. Die Kamera hat den Verkehr hinter dem Fahrzeug im Blick, angezeigt wird das Kamerabild auf einem 8.9 Zoll grossen LC-Display, das anstelle des Innenspiegels angebracht ist. Ganz unproblematisch ist das nicht. Gerade Brillenträger haben Eingewöhnungsschwierigkeiten, auf das Kamerabild zu fokussieren, vor allem dann, wenn sie zusätzliche Unterstützung im Nahbereich benötigen – was jenseits der 50 eher die Norm als die Ausnahme ist. Gentex gibt an, dass sich 82 Prozent der Fahrer innerhalb weniger Tage an das System gewöhnen und 94 Prozent innerhalb weniger Wochen. Eine mögliche Ergänzung zum Videospiegel wäre es, das Kamerabild auch in einer Kachel auf dem 15.4 Zoll grossen Infotainmentdisplay anzuzeigen, dachte Missoni während der Präsentation des Pole­star 4 in Diskussionen mit Fachjournalisten laut nach.

Klimamodus für tierische Passagiere

Apropos Display: Anders als in den anderen Pole­star-Modellen ist dieses nicht im Hoch-, sondern im Querformat installiert. Dadurch ergibt sich ­eine übersichtliche und gute Bedienbarkeit. Das System basiert auf Android Auto. Neben diesem Bildschirm werden dem Fahrer Informationen über ein 10.2 Zoll grosses Cockpit hinter dem Lenkrad und ein optionales, 14.7 Zoll grosses Head-up-Display geliefert. Damit dessen Infos auch im Winter vor dem Hintergrund verschneiter Strassen gut ablesbar sind, lässt sich die Schriftfarbe von weiss auf gelb wechseln. Weiteres kleines, aber im Alltag sehr nützliches Feature: Die Klimaanlage lässt sich in den Tier­modus schalten. Wer im Hochsommer mit Hund im Auto unterwegs ist, weiss das zu schätzen – beim kurzen Zwischenstopp am Supermarkt wird das Auto weiterhin temperiert, und ein grosser Schriftzug auf dem Display weist Passanten darauf hin, dass der Hund nicht in Gefahr ist, einen Hitzeschock zu erleiden.

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Eleganter Auftritt: Der Pole­star 4 verbindet fliessende Formen mit reichlich Platz im Innenraum.

Vorne wie hinten nehmen Fahrer und Passagiere im Polestar auf bequemen Sitzen Platz, bei den Materialien verweist Polestar auf Mikrofasern mit Biolabel und Bezüge aus rezykliertem PET. Wer sich für die Sitzbezüge aus Nappaleder entscheidet, erhält die Zusicherung, dass auf das Tierwohl geachtet wurde. Die Sitzposition im 1.53 Meter hohen Pole­star 4 ist vergleichsweise tief, durch den langen Radstand von fast drei Metern ergibt sich auch hinten reichlich Beinfreiheit. «Von aussen ist das Fahrzeug ein Coupé, innen dagegen ein SUV», sagt Polestar-CEO Thomas Ingenlath.

Anders als der Polestar 3 basiert der 4 nicht auf einer Volvo-, sondern auf der SEA-Plattform (Sustainable Experience Architecture) der chinesischen Konzernmutter Geely. Als Energiespeicher der beiden zum Marktstart angebotenen Long-Range-Modelle dient eine Batterie mit 100 Kilowattstunden Bruttokapazität, von denen 94 nutzbar sind. Die insgesamt 110 prismatischen Zellen sind dabei nicht in Modulen verbaut, sondern Cell-to-Pack direkt im Batteriegehäuse. Die Batteriespannung liegt bei 400 Volt, damit lässt sich eine maximale Ladeleistung an DC-Säulen von 200 Kilowatt erreichen. Innerhalb von 30 Minuten ist der grosse Akku wieder von zehn auf 80 Prozent geladen. Der Verzicht auf die schnellere 800-Volt-Technik hängt auch mit der engen Zusammenarbeit von Polestar mit dem Tesla-Supercharger-Netzwerk zusammen – Tesla arbeitet mit 400-Volt-Technik.

Serienmässig ist der Pole­star 4 mit einem 11-kW-Wechselstrom-Ladegerät ausgestattet, ein Lader mit 22 kW ist optional erhältlich. Mit diesem – eine entsprechende Wallbox vorausgesetzt – lässt sich die Zeit für eine komplette Ladung auf fünfeinhalb Stunden halbieren. Mit voller Batterie gibt der Hersteller eine Reichweite von rund 600 Kilometern an. Bei den ersten Fahrten mit dem Pole­star 4 in den Bergen Kastiliens rund um Madrid ergab sich ein Verbrauch von 20 bis 21 kWh/100 km. Die Reichweite im richtigen Leben abseits von WLTP dürfte sich also bei 450 Kilometern einpendeln.

Zwei Leistungsstufen

Den Pole­star 4 gibt es aktuell mit zwei Motorisierungen: als Single Motor mit Heckantrieb und 200 kW Leistung ud als Dual Motor mit 400 kW, bei dem jeweils ein permanenterregter Synchronmotor (PSM) an Vorder- und Hinterachse für sehr sportiven Vortrieb sorgt. Auch mit dem schwächeren der beiden Modelle ist man sehr gut unterwegs – man sollte nur nicht den Fehler machen, direkt vom Dual Motor umzusteigen. Der bringt seine knapp 700 Newtonmeter Drehmoment und die 400 kW (544 PS) mit einem kräftigen Kick auf die Strasse. Um bei wenig Leistungsbedarf effizient unterwegs zu sein, kann der vordere Motor vom Antriebsstrang abgekoppelt werden. Das Fahrwerk – beim Dual Motor sind adap­tive Dämpfer serienmässsig eingebaut – ist der Leistung jederzeit gewachsen und gut abgestimmt, die Lenkung ist straff, wenngleich um die Mittellage eine Spur künstlich.

Zu Preisen ab 62 900 Franken ist der Pole­star 4 sehr gut ausgestattet. Elf Aussenkameras, zwölf Ultraschallsensoren und ein Mittelbereichsradar sind technische Basis für ein breites Programm an Fahrerassistenzsystemen. Die Allradversion kostet ab 70 900 Franken, der Preis lässt sich durch die Wahl von Plus- und Performance-Paket schnell um knapp 10 000 Franken steigern. Dafür erhält man neben 22-Zoll-Rädern, Brembo-Bremsen und einer Fahrwerksoptimierung auch ein Head-up-Display, das Soundsystem von Harman Kardon, Pixel-LED-Scheinwerfer, den 22-kW-Lader und ein Steuerungsdisplay für die hinteren Sitze. 

Fotos: Polestar

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