SUV-Coupé Der Polestar 4 präsentiert sich als elegante Mischung aus grosser Limousine und SUV. Der Verzicht auf die Heckscheibe polarisiert – aber trübt er den Alltag?
Automobildesign und Abseitsentscheidungen im Fussball haben eines gemeinsam: Es lässt sich vortrefflich und endlos darüber streiten. Wer in einer Diskussion unter Autoexperten die Stichworte Polestar 4 und Heckscheibe fallen lässt, ist schnell in eine heisse Diskussion verwickelt, die ein wenig daran erinnert, wie vor gut 20 Jahren Chris Bangles 7er-BMW zerrissen wurde.
Mit dem Polestar 4 erweitert die schwedische Geely-Tochter innerhalb kürzester Zeit ihr Produktportfolio, der 4 startet praktisch zeitgleich mit dem grossen SUV Polestar 3 (AR 25/2024). Chefdesigner Maximilian Missoni hat ein sehr elegantes SUV-Coupé mit rahmenlosen Scheiben und versenkten Türgriffen, mehr als 4.80 Metern Länge und einem Luftwiderstandsbeiwert von 0.26 gezeichnet, das in seinem Auftritt auch den Eindruck einer grossen Businesslimousine vermittelt. Um die klassische Schwachstelle einer solchen, coupéhaft abfallenden Dachlinie zu vermeiden – nämlich beengte Kopffreiheit auf den hinteren Plätzen und damit eingeschränkte Nutzung für erwachsene Passagiere –, hat Missoni die Dachlinie weit nach hinten gezogen.
Mit einer klassischen Heckscheibe hätte das,
vereinfacht gesagt, dazu geführt, dass im Innenspiegel praktisch nichts
zu erkennen gewesen wäre. Also entschied sich Polestar für die radikale
Lösung: Es gibt keine Heckscheibe. Damit die Fondpassagiere nicht im
Dunkeln sitzen, zieht sich das serienmässige Panoramaglasdach bis ganz
hinten über die Köpfe und sorgt für einen luftigen, hellen Innenraum. Um
dem Fahrer neben den beiden Aussenspiegeln den Blick zurück zu
ermöglichen, arbeitet der Polestar 4 mit einem Kamerasystem des
US-Herstellers Gentex. Die Kamera hat den Verkehr hinter dem Fahrzeug im
Blick, angezeigt wird das Kamerabild auf einem 8.9 Zoll grossen
LC-Display, das anstelle des Innenspiegels angebracht ist. Ganz
unproblematisch ist das nicht. Gerade Brillenträger haben
Eingewöhnungsschwierigkeiten, auf das Kamerabild zu fokussieren, vor
allem dann, wenn sie zusätzliche Unterstützung im Nahbereich benötigen –
was jenseits der 50 eher die Norm als die Ausnahme ist. Gentex gibt an,
dass sich 82 Prozent der Fahrer innerhalb weniger Tage an das System
gewöhnen und 94 Prozent innerhalb weniger Wochen. Eine mögliche
Ergänzung zum Videospiegel wäre es, das Kamerabild auch in einer Kachel
auf dem 15.4 Zoll grossen Infotainmentdisplay anzuzeigen, dachte Missoni
während der Präsentation des Polestar 4 in Diskussionen mit
Fachjournalisten laut nach.
Klimamodus für tierische Passagiere
Apropos Display: Anders als in den anderen
Polestar-Modellen ist dieses nicht im Hoch-, sondern im Querformat
installiert. Dadurch ergibt sich eine übersichtliche und gute
Bedienbarkeit. Das System basiert auf Android Auto. Neben diesem
Bildschirm werden dem Fahrer Informationen über ein 10.2 Zoll grosses
Cockpit hinter dem Lenkrad und ein optionales, 14.7 Zoll grosses
Head-up-Display geliefert. Damit dessen Infos auch im Winter vor dem
Hintergrund verschneiter Strassen gut ablesbar sind, lässt sich die
Schriftfarbe von weiss auf gelb wechseln. Weiteres kleines, aber im
Alltag sehr nützliches Feature: Die Klimaanlage lässt sich in den
Tiermodus schalten. Wer im Hochsommer mit Hund im Auto unterwegs ist,
weiss das zu schätzen – beim kurzen Zwischenstopp am Supermarkt wird das
Auto weiterhin temperiert, und ein grosser Schriftzug auf dem Display
weist Passanten darauf hin, dass der Hund nicht in Gefahr ist, einen
Hitzeschock zu erleiden.
Eleganter Auftritt: Der Polestar 4 verbindet fliessende Formen mit reichlich Platz im Innenraum.
Vorne wie hinten nehmen Fahrer und Passagiere im
Polestar auf bequemen Sitzen Platz, bei den Materialien verweist
Polestar auf Mikrofasern mit Biolabel und Bezüge aus rezykliertem PET.
Wer sich für die Sitzbezüge aus Nappaleder entscheidet, erhält die
Zusicherung, dass auf das Tierwohl geachtet wurde. Die Sitzposition im
1.53 Meter hohen Polestar 4 ist vergleichsweise tief, durch den langen
Radstand von fast drei Metern ergibt sich auch hinten reichlich
Beinfreiheit. «Von aussen ist das Fahrzeug ein Coupé, innen dagegen ein
SUV», sagt Polestar-CEO Thomas Ingenlath.
Anders als der Polestar 3 basiert der 4 nicht auf einer
Volvo-, sondern auf der SEA-Plattform (Sustainable Experience
Architecture) der chinesischen Konzernmutter Geely. Als Energiespeicher
der beiden zum Marktstart angebotenen Long-Range-Modelle dient eine
Batterie mit 100 Kilowattstunden Bruttokapazität, von denen 94 nutzbar
sind. Die insgesamt 110 prismatischen Zellen sind dabei nicht in Modulen
verbaut, sondern Cell-to-Pack direkt im Batteriegehäuse. Die
Batteriespannung liegt bei 400 Volt, damit lässt sich eine maximale
Ladeleistung an DC-Säulen von 200 Kilowatt erreichen. Innerhalb von 30
Minuten ist der grosse Akku wieder von zehn auf 80 Prozent geladen. Der
Verzicht auf die schnellere 800-Volt-Technik hängt auch mit der engen
Zusammenarbeit von Polestar mit dem Tesla-Supercharger-Netzwerk zusammen
– Tesla arbeitet mit 400-Volt-Technik.
Serienmässig ist der Polestar 4 mit einem
11-kW-Wechselstrom-Ladegerät ausgestattet, ein Lader mit 22 kW ist
optional erhältlich. Mit diesem – eine entsprechende Wallbox
vorausgesetzt – lässt sich die Zeit für eine komplette Ladung auf
fünfeinhalb Stunden halbieren. Mit voller Batterie gibt der Hersteller
eine Reichweite von rund 600 Kilometern an. Bei den ersten Fahrten mit
dem Polestar 4 in den Bergen Kastiliens rund um Madrid ergab sich ein
Verbrauch von 20 bis 21 kWh/100 km. Die Reichweite im richtigen Leben
abseits von WLTP dürfte sich also bei 450 Kilometern einpendeln.
Zwei Leistungsstufen
Den Polestar 4 gibt es aktuell mit zwei
Motorisierungen: als Single Motor mit Heckantrieb und 200 kW Leistung ud
als Dual Motor mit 400 kW, bei dem jeweils ein permanenterregter
Synchronmotor (PSM) an Vorder- und Hinterachse für sehr sportiven
Vortrieb sorgt. Auch mit dem schwächeren der beiden Modelle ist man sehr
gut unterwegs – man sollte nur nicht den Fehler machen, direkt vom Dual
Motor umzusteigen. Der bringt seine knapp 700 Newtonmeter Drehmoment
und die 400 kW (544 PS) mit einem kräftigen Kick auf die Strasse. Um bei
wenig Leistungsbedarf effizient unterwegs zu sein, kann der vordere
Motor vom Antriebsstrang abgekoppelt werden. Das Fahrwerk – beim Dual
Motor sind adaptive Dämpfer serienmässsig eingebaut – ist der Leistung
jederzeit gewachsen und gut abgestimmt, die Lenkung ist straff,
wenngleich um die Mittellage eine Spur künstlich.
Zu Preisen ab 62 900 Franken ist der Polestar 4 sehr
gut ausgestattet. Elf Aussenkameras, zwölf Ultraschallsensoren und ein
Mittelbereichsradar sind technische Basis für ein breites Programm an
Fahrerassistenzsystemen. Die Allradversion kostet ab 70 900 Franken, der
Preis lässt sich durch die Wahl von Plus- und Performance-Paket schnell
um knapp 10 000 Franken steigern. Dafür erhält man neben
22-Zoll-Rädern, Brembo-Bremsen und einer Fahrwerksoptimierung auch ein
Head-up-Display, das Soundsystem von Harman Kardon,
Pixel-LED-Scheinwerfer, den 22-kW-Lader und ein Steuerungsdisplay für
die hinteren Sitze.