Ferrari SF90 XX – Fliessender Übergang zwischen Rennstrecke und Strasse

Klaus Justen | 21.12.2023

Supersportwagen Der Ferrari SF90 XX Stradale bewegt sich haarscharf an der Grenze zwischen Renn- und Strassenauto. Eine ausgefeilte Aerodynamik hilft, die 1030 PS zu bändigen.

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Brachiale Beschleunigungswerte: In 2.3 Sekunden ist man auf Tempo 100, nach 6.7 Sekunden fällt die 200-km/h-Marke. Vor allem der massive Heckflügel trägt dazu bei, dass sich der SF90 XX mit hohem Tempo durch Kurven zirkeln lässt.

An der Hausstrecke von Ferrari haben sich schon sämtliche Weltmeister und Topfahrer der Scuderia die Klinke in die Hand gegeben und die knapp drei Kilometer kurze Pista Fiorano in der Emilia-Romagna zum Feinschliff an ihren sportlichen Dienstwagen genutzt. Michael Schumacher durcheilte mit seinem F2004 die zwölf Kurven der Pista in knapp 56 Sekunden, den Rekord für ein Auto mit Strassenzulassung stellte vor acht Jahren ein La Ferrari auf. Seitdem galt für Strassenautos die Grenze von 80 Sekunden für eine Runde als gesetzt – bis zum 16. Oktober. Eine Minute, 17 Sekunden und 309 Hundertstelsekunden benötigte Werksfahrer Raffaele de Simone mit dem Ferrari SF90 XX Stradale für den rund um das Haus von Enzo Ferrari gebauten Kurs. Neue Bestzeit.

Wobei – ist der SF90 XX wirklich ein Strassenauto? Oder ist er ein reinrassiger Rennwagen? Ein Jurist würde jetzt sagen: Kommt darauf an. Und er hätte recht. Der SF90 XX ist beides. Schliesslich entstammt er dem XX-Programm der italienischen Sportwagenmarke, aus dem die gut betuchte Klientel des Cavallino rampante mit Material für die Rennstrecke versorgt wird. Im Normalfall sind die Autos ausschliesslich für den Einsatz auf privatem Geläuf ausgelegt. Mit dem SF90 XX verbindet der Hersteller aber das XX-Programm mit seinem Konzept der limitierten Sonderserien. Heraus kam ein hochgezüchteter Sportwagen, der aber für die Strasse homologiert wird. Serien von 799 Stück des Stradale und 599 des Spider legte Ferrari auf, mit Preisen von 770 000 Euro für den geschlossenen und nochmals rund 80 000 Euro mehr für den offenen SF90 XX nicht unbedingt Sonderangebote. Trotzdem muss man nicht lange raten: Die Edition ist längst ausverkauft.

Kleiner Dreh an der Leistung

Der serienmässige Ferrari SF90 ist prinzipiell nicht gerade schwachbrüstig. Eine Systemleistung von glatt 735 kW (1000 PS) steht für den Plug-in-Hybrid in den Datenblättern, für den SF90 XX bemühten sich die Entwickler noch um ein bisschen Feinschliff in beiden Motorwelten und pushten die Systemleistung auf 757 kW (1030 PS). Der Vierliter-V8, der von zwei Turboladern mit Luft für das Verbrennungsgemisch versorgt wird, leistet nun 586 kW (797 PS). Dabei griffen die Entwickler auf altbewährte Zutaten zurück. Ein- und Auslasstrakt sind auf Effizienz poliert, die Verdichtung wurde leicht erhöht, dazu gibt es neue Kolben und optimierte Brennkammern. Das ergibt 17 PS mehr.

Unterstützt wird der Verbrenner von drei Elektromotoren: einem zwischen Mittelmotor und Getriebe im Heck, zwei an der Vorderachse. Vor allem eine bessere Kühlung ermöglicht ein Leistungsplus von 13 PS auf 171 kW (233 PS) und erlaubt elektrisches Fahren bis Tempo 135. Allerdings reicht das erstens wegen der kleinen 7.9-kWh-Batterie nur für maximal 25 Kilometer, und zweitens ist das bei einem solchen Sportgerät ein eher zweitrangiges Feature. Vorrangig sind der Boost für den V8 und die möglichst saubere Verteilung der Antriebskräfte auf die vier Räder, und das in nahezu jeder Fahrsituation auf unterschiedlichsten Fahrbahnuntergründen. Das Zauberwort heisst Torque-­Vectoring. Vor allem spürbar im ­Qualifying-Modus, der über den Manettino am Lenkrad eingeschaltet werden kann – am Kurvenausgang gibt das Hybridsystem eine Extraportion Leistung auf die Antriebsräder und katapultiert den SF90 XX nach vorne. Begleitet vom Sound des V8, den Ferrari «neu komponiert» hat, wie Produktmanager Matteo Turconi lächelnd sagt.

Grosser Aerodynamikumbau

Die 1030 PS wollen aber auch auf die Strasse gebracht werden, und hier bekommt der SF90 XX sein wahres Rennsport-Package. Denn den grössten Entwicklungsaufwand investierte der Hersteller in Luftführung und Aerodynamik, wie Entwicklungsingenieur Andrea Paolini erklärt. In mehr als 1000 digitalen Simulationen und mit 150 Windkanalsitzungen für die unterschiedlichsten Konfigurationen entstand ein Gesamtpaket, das den XX in eine völlig andere Liga transferiert. Der Abtrieb, der den SF90 XX auf die Strasse presst, wurde so auf 530 Kilogramm bei 250 km/h verdoppelt. Erkauft wird dies allerdings durch eine leicht reduzierte Höchstgeschwindigkeit, der XX läuft bis Tempo 320, der normale SF90 bis 340.

Nicht übersehbar sind die Änderungen am Fahrzeugheck. Erstmals seit dem F50 arbeitet Ferrari bei einem Strassenfahrzeug wieder mit einem feststehenden Heckflügel. Um aber den besten Kompromiss zwischen Vor- und Abtrieb zu generieren, wird er mit einem beweglichen Element kombiniert, dem sogenannten Shut-off-Gurney. Der Heckdeckel mit dem Ferrari-Schriftzug ist im Normalfall in der oberen Position fixiert. Wird jedoch in Kurven oder beim Bremsen mehr Abtrieb benötigt, fahren ihn Aktuatoren nach unten, sodass nicht nur der Luftfluss am Gurney selbst sich verändert, sondern auch der feststehende Heckflügel anders angeströmt und damit zusätzlicher Abtrieb erzeugt wird. «Der Effekt ist der Gleiche, wie wenn wir einen beweglichen Flügel nutzen würden», sagt Paolini, «aber der Aufwand ist deutlich geringer, die Verstellmotoren können wesentlich kleiner und leichter sein.»

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Durch Modifikationen an Fahrzeugfront, Heck und Unterboden klebt der Ferrari SF90 XX geradezu auf den Strasse.

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Ist das Shut-off-Gurney in Normalposition, ist der Luftwiderstand kleiner.

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Shut-off-Guerney bei der Arbeit: In der abgesenkten Position wird der feststehende Heckflügel stärker angeströmt und mehr Abtrieb erzeugt.

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Die Luft zur Kühlung des Hybridsystems strömt zentral am Fahrzeugbug ein und wird gezielt über die Karosserie abgeleitet.

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Wichtig: Der heisse Luftstrom muss zentral über das Dach führen.

Die nun bis zu 315 Kilogramm Abtrieb an der Hinterachse erforderten zwangsläufig Anpassungen an der Vorderachse. Dazu gehört der Kühlluftstrom für das Hybridsystem. Dessen Kühler ist nun stärker geneigt und wird von zwei S-förmigen Luftkanälen mit Frischluft versorgt. Das geht zwar einerseits zulasten des Kofferraums, den es im XX nicht mehr gibt, andererseits ermöglicht es eine höhere Leistung des Hybridsystems, und die Kühlluft wird nicht mehr über den Unterboden abgeleitet, sondern über die Karosserie. Der nun geschlossene Unterboden wird von einem neu gestalteten Frontsplitter so angeströmt, das in Kombination mit dem geänderten Frontdiffusor 45 Kilogramm mehr Abtrieb erzeugt werden. Herausforderung bei der Führung der Luft übers Fahrzeug: Die heisse Luft aus dem Kühler muss über die Mitte der Karosserie abgeleitet werden, während die kühlere Luft zu den Seiten fliessen muss. Im Bereich der A-Säule entstehen nämlich Verwirbelungen, die beim Spider die Luft in den Innenraum führen können – da wäre heisse Luft eher unerwünscht.

Auf Schienen durch die Kurven

Die Kombination aus 1030 PS und mehr als 800 Newtonmetern Drehmoment ergibt beim Beschleunigen mit dem SF90 XX einen kräftigen Schlag ins Kreuz. Auf der langen Geraden in Fiorano reichte das während der Rekordfahrt für den Spitzenwert 270 km/h, mit verkürztem Anlauf während der Testfahrten bei der Präsentation waren immer noch gut 210 km/h möglich, die in der folgenden 90-Grad-Rechtskurve brachial hinuntergebremst werden mussten. Der mächtige Abtrieb an der Hinterachse – der auch dazu führt, dass dort nun grössere Bremsscheiben mit 390 Millimetern Durchmesser verbaut sind – und die auf den Punkt exakte Lenkung ermöglichen es, das Auto sauber durch die zum Teil engen Kurven der Rennstrecke zu zirkeln. Gleichzeitig sind die elektronischen Helfer aktiv, die beim Tritt aufs Gaspedal die Antriebskräfte dorthin leiten, wo sie nützlich sind. Der Ferrari saugt sich geradezu in die Kurven, ist sogar über eine weite Spanne sehr fehlerverzeihend – nur übermütig werden sollte man nicht. Auch mit SF90 XX gilt, dass man sich dem Grenzbereich besser von unten her annähert. 

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Sollte man einem Ferrari SF90 XX in freier Wildbahn begegnen, wird man überwiegend sein Heck sehen.

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Der V8-Mittelmotor leistet 586 kW (797 PS) bei 7900 U/min. Bei 8000 U/min beginnt der rote Bereich.

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Sportlich, aber durchaus komfortabel: Verstellbare Schalensitze, gewohntes Ferrari-Interieur.

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