Rolls-Royce Spectre – Gespenstische Ruhe

Arnold R. Pulfer | 21.05.2024

Umsturz Maximale Laufruhe. Maximaler Komfort. Ziele, die Rolls-Royce bei jedem Modell verfolgt. Beim neuen Spectre opfern die Briten dafür sogar den traditionellen Zwölfzylinder.

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Hier, in der Rubrik Faszination, feiern wir für gewöhnlich die unvernünftigsten Automodelle ab, die natürlich über einen politisch inkorrekten Verbrennungsmotor verfügen. Nun gewähren wir mit dem Rolls-Royce Spectre erstmals einem neuzeitlichen Elektrovertreter einen Auftritt. Der ist aber trotz seines heilsversprechenden Antriebskonzepts und der modernen Aufmachung ausserordentlich unvernünftig. Und auch wirklich absolut faszinierend. So wie überhaupt die ganze Entstehungsgeschichte von Rolls-Royce. Denn am 4. Mai 1904 trafen sich Henry Royce und Charles Rolls im Midland Hotel in Manchester (GB) zum ersten Mal, am 15. März 1906 fusionierten sie schliesslich ihre Unternehmen zur Rolls-Royce Ltd., einer Gesellschaft für den Bau von Elektroanlagen, Kränen und Automobilen. Was daraus geworden ist, wissen wir alle. Kaum ein Name in der Automobilwelt hat mehr Strahlkraft und steht derart unmissverständlich für puren Luxus. Schon 1936 wurde diesem Luxus im Phantom III mit einem V12-Motor unter der Haube Ausdruck verliehen.

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In der Folge setzte Rolls-Royce auf Sechs- und Achtzylindermotoren. 1998 kehrte der Zwölfzylinder, genauer der M73 aus dem BMW-Regal, zurück unter die Haube des Silver Seraph – und ist seither der Standard für die in Goodwood (GB) gebauten Luxuskarossen. Er sorgt für kaum hörbaren, sanften, aber satten Schub. Eine Tugend, die die Ingenieure in Goodwood stetig perfektionierten. Der beeindruckende Beweis für die Früchte dieser Bemühungen: Man nehme eine Pfund-Münze und stelle sie hochkant auf den Zwölfender. Selbst bei beherzten Gasstössen im Leerlauf kippt die Münze nicht um. Doch es geht noch besser, noch ruhiger: Zum ersten Mal seit 26 Jahren weicht Rolls-Royce nämlich vom bewährten V12-Konzept ab und vollzieht nicht nur deshalb einen Kurswechsel, der radikaler nicht sein könnte.

Von zwölf auf null

Wie schon beim V12 im Silver Seraph bedient sich Rolls-Royce für den neuen Spectre (zu Deutsch: Gespenst) der Antriebskomponenten aus dem aktuellen BMW 7er. Einen Zwölfzylinder gibt es dort nicht mehr. Dafür aber aus dem i7 die Patentlösung für leises und gediegenes Gleiten: einen elektrischen Antrieb.

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Zum Statement für den Sprung in die Zukunft wird der Spectre dadurch nicht. Er ist kein Tesla für Superreiche, sondern bleibt in erster Linie ein Rolls-Royce. Optisch setzt er die aktuelle Designsprache der Marke nahtlos fort. Der Kühlergrill, weiterhin ein echter aus verchromtem Metall, nicht etwa ein Fake aus schnödem Plastik, ist etwas flacher, die Silhouette des zweitürigen Vierplätzers etwas gestreckter. Doch grundsätzlich bleibt der Spectre genau das, was ein Rolls-Royce-Coupé darstellen soll: eine imposante Erscheinung. Unter der gigantischen vorderen Haube gibt es auch keinen Frunk. Es wäre eines Rolls-Royce nicht würdig, wenn man die Haube öffnen müsste. So viel Tradition muss sein, auch wenn man damit Laderaum verschenkt. Eine gute Prise Überfluss war eben schon immer Teil des Prinzips Rolls-Royce.

Leiser als leise

Die Faszination an einem Rolls-Royce V12 ist der leise, sanfte und dennoch nachdrückliche Schub, den er über das Automatikgetriebe an die Räder schickt. «Effortless – mühelos», wie die Briten gerne betonen. Natürlich hätte man im Falle des Wraith, des Vorgängers des Spectre, satte 600 PS zur Verfügung, wenn man denn wollte. Doch man will eigentlich nicht. Es reicht, zu wissen, dass man könnte, während man seelenruhig und entspannt dahingleitet. Kein Auto kann das besser als ein Zwölfzylinder-Rolls-Royce. Bis jetzt. Denn das Bessere ist bekanntlich des Guten Feind.

Eleganz und Nutzwert: Die Kühlerfigur Spirit of Ecstasy, oder einfach Emily, stellt ihre Füsse für eine bessere Aerodynamik wie eine Eiskunstläuferin hintereinander. Der hinter dem vorderen Kotflügel verstaute Regenschirm ist praktisch.

Das Fahrpedal des neuen Stromers ist fein kalibriert, damit die Köpfe der gut betuchten Herr- und Frauschaften beim Beschleunigen nicht gegen die Kopfstützen knallen. Der Spectre setzt sich sanft und bei Bedarf nachdrücklich in Bewegung. Und auch wenn von manchem E-Auto berichtet wird, dass es praktisch geräuschlos beschleunige, spielt der Spectre diesbezüglich in einer ganz eigenen Liga. Vom Antrieb ist effektiv gar nichts zu hören. Je nach Untergrund und Geschwindigkeit vernehmen die Ohren Abrollgeräusche und ein leises Rauschen des Fahrtwindes. So leise allerdings, dass Gesprächspartner am Telefon oft nicht glauben wollen, dass man gerade im Auto sitzt. Im Tunnel. Auf der Autobahn.

Die logische Konsequenz

Gerade für Luxusmarken, die grosse Teile ihres faszinierenden Images auf den Schultern eines charakterstarken Verbrennungsmotors aufgebaut haben, stellt ein Umstieg auf elektrische Antriebe ­eine grosse Herausforderung dar. Mit dem Spectre vollzieht Rolls-Royce diesen Übergang geradezu unglaublich souverän und mühelos. Genauso mühelos, wie auch das Fahren in der obersten Oberklasse des Automobilbaus sein soll. Denn das gespenstisch leise Coupé zelebriert den E-Antrieb nicht als Heilsbringer und neue Technologie für die Zukunft. Es adaptiert ihn lediglich als logische Konsequenz jahrzehntelanger Bemühungen, den Antrieb eines Rolls-Royce so souverän und leise wie möglich zu gestalten. Erhabener als im Spectre können 900 Nm Drehmoment und 430 kW (585 PS) schlichtweg nicht dargereicht werden. Die Frage, ob diese Kraft nun aus Zylinderhüben oder aus elektrischen Spannungen gewonnen wird, verkommt zur absoluten Nebensache.

Eine Ode an die Stille: Der Antrieb des Spectre ist im opulent ausstaffierten Passagierabteil, in das man über sich gegenläufig öffnende Türen gelangt, nicht zu hören. Selbstredend gibt es auch viele andere Farben fürs Interieur. 

Der Innenraum gibt sich genauso, wie es von ­einem echten Rolls-Royce erwartet wird. Praktisch nichts deutet darauf hin, dass in diesem Auto keine kontrollierten Explosionen von Benzin-Luft-Gemisch mehr stattfinden. Vom detailverliebten, vom werkseigenen Astronomen individuell zusammengestellten Sternenhimmel über unsagbar akkurat vernähtes, feinstes Leder, Teppiche aus Lammwolle bis zu den Lüftungsdüsen aus echtem Chrom: Hier wird nicht gespart. Schliesslich kennen die Macher in Goodwood ihre Kundschaft. Wer einen Rolls-Royce kauft, weiss, was er will. Und soll weiterhin genau das bekommen – oder sogar noch etwas mehr.

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Etwas mehr ist es dann auch beim Gewicht. Durch die üppige Ausstattung, die solide Bauweise und den grossen Akku (netto 101.7 kWh) bleibt die Waage beim 5.45-Meter-Riesen bei knapp drei Tonnen stehen. Der Wraith war auch kein Leichtgewicht (knapp 2.5 t), aber im Vergleich zum Spectre schon. Doch das hohe Gewicht hilft sogar, den luftgefederten E-Briten extrem sanft und souverän abrollen zu lassen, während der tiefe Schwerpunkt die Seitenneigung in Grenzen hält. Auch hier spielt der E-Antrieb seine Vorteile aus. Dass das Gewicht und die weiche Abstimmung nicht allzu viel Dynamik erlauben: absolut egal.

Genügend Reichweite

Natürlich müssen wir bei einem E-Auto auch über Reichweite sprechen. Und die Antwort auf die Frage danach ist eigentlich die gleiche, die man früher bei Rolls-Royce auf jene nach der Leistung erhielt: ausreichend. Die grosszügige Batteriekapazität trifft gar auf einen erstaunlich tiefen Verbrauch, bei uns waren es knapp 22 kWh/100 km. Das verdankt der Rolls viel Feinarbeit bei der Aerodynamik, sogar die Kühlerfigur Spirit of Ecstasy stellt ihre Füsse nun hintereinander wie eine Eiskunstläuferin, um besser durch den Wind zu gleiten. So sind 400 bis 450 reale Kilometer möglich. Laut WLTP könnten es 533 Kilometer sein.

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Das ist tatsächlich mehr als genug, schliesslich ist der Spectre wohl selten bis nie die einzige Mobilitätslösung in einem entsprechenden Haushalt, wo sich in der Regel auch eine Lademöglichkeit einrichten lässt. Für sehr weite Strecken stehen sicher andere Fahr- oder Flugzeuge zur Verfügung. Und für all jene, die nach dem Preis fragen müssen: Der erste Rolls-Royce mit E-Antrieb startet bei gut 425 000 Franken. Mit etwas Individualisierung und Sonderausstattung kann daraus schnell mehr als eine halbe Million werden. Auch damit bleibt sich Rolls-Royce mit dem Spectre treu. 

Fotos: Rolls-Royce / Montage AR

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