Der Griff in die Hausapotheke ist für Schweizerinnen und Schweizer eine Selbstverständlichkeit. Allein um die 300 Millionen Franken geben die Haushalte jährlich für Husten- und Erkältungsmittel aus – das sind pro Kopf mehr als 35 Franken für Hustensaft, Schleimlöser, Schmerzmittel oder entzündungshemmende Medikamente. Rund jeder Vierte leidet unter hohem Blutdruck, der in vielen Fällen medikamentös behandelt wird, und aktuell ist fast jeder Dritte geplagt von Blütenpollen, zum Beispiel der Birke, die heftige allergische Reaktionen auslösen, die sich nur durch den Einsatz von Antihistaminika ertragen lassen. Dass sich die Einnahme solcher Medikamente jedoch nicht unbedingt mit dem Lenken eines Fahrzeugs verträgt, ist viele Autofahrern nicht bewusst.
In der Schweiz sind rund 3500 Medikamente erhältlich, die einen negativen Einfluss auf die Fahrfähigkeit haben können. Die meisten davon gibt es nur auf ärztliches Rezept, ein Teil ist aber auch rezeptfrei in der Apotheke oder Drogerie zu kaufen. Rund 150 Schwerverletzte und Tote sind jedes Jahr zu beklagen, weil Medikamente und Drogen im Spiel waren, schätzt die Beratungsstelle für Unfallverhütung (BFU) – und die Dunkelziffer sei hoch, weil die wahre Unfallursache oft nicht ermittelt werde. «Autofahrer müssen sich der Gefahren durch die Einnahme von Medikamenten bewusster werden», sagt der Psychologe Thomas Kramer, Experte für Verkehrsverhalten bei der BFU. «Medikamente wirken sich sehr individuell auf die Fahrtüchtigkeit aus», betont Kramer, «sie können unter anderem müde machen, das Sehvermögen und damit die Wahrnehmung des Verkehrs beeinträchtigen oder zu einer verlangsamten Reaktion gerade in kritischen Situationen führen.»
Einer der ersten Lehrsätze, die Medizinstudenten während ihres Studiums hören, lautet: Medizin ist keine exakte Wissenschaft. Natürlich hat jedes Medikament eine Wirkung (und damit auch eine Nebenwirkung). Aber wie genau diese Wirkungen aussehen, unterscheidet sich nicht nur von Mensch zu Mensch. Je nach Tagesform, aktueller Verfassung oder anderen Faktoren kann die Einnahme eines Mittels heute völlig komplikationslos sein, verursacht aber an einem anderen Tag Probleme. Weil man zum Beispiel schlecht geschlafen hat, sich als Pollenallergiker bei der morgendlichen Joggingrunde doch eine höhere Dosis an Blütenpollen eingefangen hat als gedacht oder sich verschiedene Medikamente in ihrer Nebenwirkung verstärken. Wer Medikamente nimmt und aufs Autofahren nicht verzichten kann, sollte also darauf achten, ob der Körper Warnsignale sendet. Wird man leicht schläfrig oder reagiert fahrig, dann ist – Zeitdruck hin, Zeitdruck her – eine Pause angesagt, um sich ein wenig zu erholen.
Fataler Mix: Alkohol und Medikamente
Zudem sollte man schauen, dass man dem Risikofaktor Medikament keine weiteren Faktoren hinzufügt. Alkohol und Autofahren sind ohnehin eine ungute Kombination, aber eine kleine Stange Bier oder ein Einerli Weisswein zum Mittagessen ist im Normalfall unkritisch, solange man nur auf die 0.5-Promille-Grenze schaut. Verstärkt aber der moderate Alkoholkonsum die Wirkung von Medikamenten, wird es richtig kritisch. Und es muss nicht einmal das Glas Bier sein – gerade Kombinationspräparate zur Bekämpfung von Erkältungssymptomen enthalten selbst schon oft eine gehörige Portion Alkohol. Diese Mittel sollte man tatsächlich nur abends nehmen, bevor man ins Bett geht, nicht aber vor einer Autofahrt. Und am nächsten Tag trotzdem vorsichtig sein, gerade Schlafmittel zeigen auch verspätet noch Wirkung.
«Wenn ein Unfall passiert, kann sich niemand damit herausreden, das habe er nicht wissen können», betont Kramer. «Die Verantwortung, in fahrunfähigem Zustand aufs Fahren zu verzichten liegt grundsätzlich bei den Fahrzeuglenkenden selbst.» Das unterstreicht auch die gängige Rechtsprechung der Obergerichte und des Bundesgerichts. Die möglichen Konsequenzen: Führerausweisentzug, Geld- oder bei schweren Unfällen auch Freiheitsstrafen und Regressforderungen der Fahrzeugversicherung.
Die Liste der Medikamente, die Einfluss auf die Fahrtüchtigkeit haben können, ist lang, sie reicht von Grippemitteln über Augentropfen, Allergiemedikamente und Blutdrucksenker bis hin zu Appetitzüglern (s. Box). Dabei gibt es aber innerhalb der Medikamentengruppen durchaus Unterschiede. So standen gerade bei den für Pollenallergiker wichtigen Antiallergika und Antihistaminen in der Vergangenheit viele Mittel (zu Recht) im Ruf, extrem müde zu machen. Das ist bei den modernen Mitteln deutlich weniger der Fall.
Beipackzettel gibt Hinweise
Wer – regelmässig oder sporadisch – zu Medikamenten greifen muss, sollte sich nicht scheuen, einen Blick auf den Beipackzettel zu werfen. Das Kapitel mit all den möglichen Nebenwirkungen beunruhigt ja oft schon genug, entscheidend ist aber ein einziger Satz. Heisst es im Beipackzettel, der Patient sei nach Einnahme des Medikaments nicht zum Führen von Maschinen geeignet, bedeutet das für Autofahrer Gefahr. In diesem Fall sollte man das Gespräch mit dem Arzt oder dem Apotheker der Wahl suchen. Es gibt manchmal auch Medikamente mit gleicher Wirkung, die die Fahrtüchtigkeit nicht beeinflussen. Hier bringt der Wechsel des Medikaments mehr Sicherheit im Strassenverkehr. Auch wenn man ein Medikament höher dosieren muss oder ein Mittel neu verschrieben bekommt, das möglicherweise Wechselwirkungen erzeugt, sollte man sich vom Profi beraten lassen.