Mercedes meldete sich zurück (Foto), Sauber holte wieder Punkte, Ferrari fuhr der Spitze hinterher und schliesslich kams auch zum direkten Duell der Titelanwärter im McLaren-Rennstall. Der Grand Prix von Kanada hatte es in sich.
Eine bessere Werbung für die Rückkehr der Formel 1 nach Europa hätte der Grand Prix von Kanada kaum liefern können. Das überraschende Comeback von Mercedes mit dem ersten Saisonsieg von George Russell und dem dritten Platz von Andrea Kimi Antonelli. Die ungebrochene Kampfeslust von Max Verstappen, obwohl dieser nur noch einen Punkt von einer Sperre entfernt ist. Die – nach eigener Aussage – dämliche Aktion von Lando Norris, der drei Runden vor Schluss auf das Heck seines McLaren-Teamkollegen Oscar Piastri aufgefahren war. Und einmal mehr eine indiskutable Vorstellung von Ferrari mit den Plätzen fünf und sechs für Charles Leclerc und Lewis Hamilton. Für Sauber und Nico Hülkenberg reichte es hingegen zum zweiten Mal in Folge für Punkte, vier Zähler für den achten Rang. Die Mannschaftsleistungen, wie sie auch im neuen Formel-1-Movie in den Kinos zelebriert werden wird, stand am zehnten Rennwochenende im Mittelpunkt. Sie ergeben einen spannenden Gegenschnitt über die aktuellen Befindlichkeiten im so eng zusammenliegenden Feld.
In mentaler Krise
Für Lando Norris ist der Crash drei Runden vor Schluss im Kampf um Platz vier nicht nur ein herber Rückschlag, was seine Titelchancen angeht, er liegt nun 22 Zähler hinter Piastri. Sein Fahrfehler könnte eine nachhaltige Wirkung besitzen. Denn Montreal hat gezeigt, dass der «papaya rules» genannte Nichtangriffspakt im Team höchst fragil ist. Teamchef Andrea Stella dürfte bald gezwungen sein, statt der Gleichberechtigung auf eine Nummer Eins zu setzen, falls Verstappen trotz unterlegenen Materials eine latente Bedrohung in der WM bleibt. Der Italiener sieht einen klaren Verstoss gegen die Prinzipien des Miteinanders: «So etwas wollen wir nicht sehen. Aber es war keine böse Absicht, sondern eine Fehleinschätzung. Und es hat Lando einiges gekostet.»" Der Brite rutscht immer tiefer in eine mentale Krise.
Mercedes-Wochenende: Sieger George Russell (r.) und der drittplatzierte Andrea Kimi Antonelli.
Es ist geschafft: Formel-1-Rookie Andrea Kimi Antonelli stand erstmals auf dem Podest.
Redebedarf: McLaren-Teamchef Andrea Stella (Mitte) mit seinen Piloten Oscar Piastri (l.) und Lando Norris.
Bei Mercedes kamen Streckenbeschaffenheit und Layout des Circuit
Gilles-Villeneuve dem Erfolg entgegen, aber vor allem George Russell war
zuletzt auf einem eher unauffälligen, aber höchst effizienten Weg nach
oben. Sein vierter Karrieresieg könnte seine Zukunft bei den
Silberpfeilen sichern. «Für mich war schon immer klar, dass ich meinen
Vertrag verlängern möchte. Mercedes hat mir die Chance gegeben, ich
schulde ihnen etwas. Und ich weiss, dass ich in einer guten Position
bin, wenn ich weiter solche Leistungen bringe.» Dass er bisher so
perfekt mit dem Teamkollegen Antonelli harmoniert, der es als
drittjüngster der Formel-1-Geschichte aufs Podium schaffte, nimmt er als
moralischen Zusatzschub: «Wieso soll man etwas beenden, wenn es funktioniert?»
«Es ist jetzt alles aufgeräumter»
Nico Hülkenberg hatte seine wiederholte Fahrt in die Punkte seiner
Abgeklärtheit zu verdanken, in der Auftaktrunde hatte sich der deutsche
Sauber-Pilot aus allem herausgehalten und war aufgerückt. Er selbst
sieht als Schlüssel für die zweite Fahrt in Folge in die zählbaren Ränge
das Verhalten der Reifen, die Strategie des Teams und vor allem den
veränderten Unterboden. «Es ist jetzt alles aufgeräumter», freut sich Hülkenberg, «das Auto ist stabiler». Teamchef Jonathan Wheatley verspürt ein Momentum in Hinwil, das es jetzt auch in Europa zu Nutzen gelte.
Bleibt als grosse Enttäuschung erneut Ferrari, nachdem sich Teamchef
Frédéric Vasseur in einer Brandrede vor dem kanadischen Grand Prix gegen
alle Gerüchte in den italienischen Medien verwehrt hatte, dass sein
Posten und auch der mehrerer leitender Ingenieure in Gefahr sei und
Charles Leclerc das Team verlassen wolle. Doch nachdem sich die roten
Autos in Montreal im Niemandsland bewegten, die Kritik von Lewis
Hamilton immer stärker wird, und Mercedes in der Gesamtwertung vorbei
auf Rang zwei gerückt ist, braucht der Franzose dringend ein
Erfolgserlebnis. Vasseur klingt fast wie der überaus selbstkritische
Lando Norris, wenn er sagt: «Wir machen einfach zu viele Fehler.»
Wieder in den Punkterängen: Nico Hülkenberg holte mit Sauber den achten Platz.
Enttäuschend: Ferraris Charles Leclerc schaffte in Kanada nur Rang fünf, nachdem ihm nachgesagt wurde, er würde Ferrari verlassen.
Enttäuschend: Lewis Hamilton landete hinter Leclerc auf Platz sechs und übt zunehmend Kritik an Ferrari.
Resultate
Grand Prix von Kanada. Barcelona, 10. Lauf. Gesamtklassement: 1. George Russell (GB), Mercedes, 70 Runden (305.270 km), 1:31:52.688 Stunden (=199.353 km/h; Rennen unter Safetycar beendet). 2. Max Verstappen (NL), Red Bull-Honda, 0.228 Sekunden zurück. 3. Kimi Antonelli (I), Mercedes, 1.014. 4. Oscar Piastri (AUS), McLaren-Mercedes, 2.109. 5. Charles Leclerc (MC), Ferrari, 3.442. 6. Lewis Hamilton (GB), Ferrari, 10.713. 7. Fernando Alonso (E), Aston Martin-Mercedes, 10.972. 8. Nico Hülkenberg (D), Sauber-Ferrari, 15.364. 9. Esteban Ocon (F), Haas-Ferrari, 1 Runde zurück. 10. Carlos Sainz (E), Williams-Mercedes, 1 Rd. 11. Oliver Bearman (GB), Haas-Ferrari, 1 Rd. 12. Yuki Tsunoda (J), Red Bull-Honda, 1 Rd. 13. Franco Colapinto (RA), Alpine-Renault, 1 Rd. 14. Gabriel Bortoleto (BR), Sauber-Ferrari, 1 Rd. 15. Pierre Gasly (F), Alpine-Renault, 1 Rd. 16. Isack Hadjar (F), Racing Bulls-Honda, 1 Rd. 17. Lance Stroll (CDN), Aston Martin-Mercedes, 1 Rd. 18. Lando Norris (GB), McLaren-Mercedes, 3 Runden zurück (nach Unfall ausgeschieden, aber aufgrund der zurückgelegten Distanz gewertet). – Ausfälle: Liam Lawson (NZ), Racing Bulls-Honda (53. Runde); Alexander Alob (T), Williams-Mercedes (46.). – 20 Fahrer gestartet, 18 klassiert.