Neue Dynamik – Formel 1 mit Dominoeffekt

Elmar Brümmer | 29.02.2024

Formel 1 Es tut sich etwas im neuen Jahr. Die Gegner jagen Max Verstappen und Red Bull. Und neben der Strecke geht die Jagd los auf Cockpits.

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Dominoeffekt: Lewis Hamilton wechselt 2025 zu Ferrari. Wo geht also Carlos Sainz hin? Wird Charles Leclerc neben Hamilton glücklich? Wer fährt mit George Russell bei Mercedes? Was tut Sergio Pérez, wenn sein Vertrag bei Red Bull ausläuft? Lacht am Ende Fernando Alonso (v. l.)?

Wie soll das gehen, ein so perfektes Auto, wie es der Red-Bull-Renn­wagen des letzten Jahrs war, noch perfekter zu machen? Ist es möglich, ­eine Rekordsaison, wie sie Max Verstappen in den Asphalt brannte, noch zu steigern? Ungefähr diese Fragen sind es, die Adrian Newey bewegen, den Guru unter den Formel-1-Designern. Beim Herrn der Lüfte in der Königsklasse kreisen nicht bloss die Gedanken, die verschiedenen Konzepte fahren in seinem Superhirn mit sich selbst um die Wette. So ist das 20. Auto, das aus Milton Keynes (GB) kommt, erneut eine Überraschung. Verstappens Auto für die Titelverteidigung erinnert von der Seite und vor allem von der Heckkonstruktion her stark an den ersten Mercedes nach dem Reglementwechsel 2022. Ein grosses Risiko oder eine gute Idee, nur besser gemacht als bei Mercedes damals? «Red Bull überrascht uns immer wieder», sagt Sergio Pérez. Darüber kann man sich freuen, aber es kann einen auch erschrecken. Eine der vielen grossen Fragen in der neuen Saison: Ist der Siegeshunger von Verstappen zu stoppen?

Konstanz vor Technik

Reichen wir diese Frage doch gleich weiter nach Maranello (I), da Ferrari tatsächlich der einzige Rennstall war, der in der letzten Saison die Siegesserie von Red Bull unterbrechen konnte, selbst wenn es nur beim Strassenrennen in Singapur war. Der ehemalige Sauber-Teamchef Frédéric Vasseur baute im ersten Jahr an der Ferrari-Spitze mächtig um, und er schickt einen komplett neuen roten Rennwagen als Herausforderer ins Rennen. Die Italiener wissen aber selbst, dass es nicht nur auf die Technik, sondern vor allem auf die Konstanz in allen Bereichen ankommt.

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Der vierte Titel in Serie ist für Red-Bull-Pilot Max Verstappen das Ziel: Dem Niederländer und Teamchef Christian Horner kommt das Treiben auf dem Transfermarkt entgegen.

«Es ist ein riesiger Schritt, der vor uns liegt. Aber wir können auf den Fortschritten aus der letzten Saison aufbauen.» Vasseur glaubt, dass sich zumindest im Verfolgerfeld alle Rennwagen annähern, was im dritten Jahr gleichbleibender Regeln eine gewisse Logik hat. Den Unterschied wird aber einmal mehr das Detail machen. Und es geht nicht bloss um die Äusserlichkeiten. Wer weiss, was Newey unter der Karbonhülle des Red Bull RB20 alles hat ändern lassen? Das mag ja noch kalkulierbar sein. Völlig offen ist jedoch, wie es mit Teamchef Christian Horner nach den Anschuldigungen einer Mitarbeiterin weitergeht, und wie sehr sich ein erfolgsverwöhntes Gebilde wie Red Bull Racing davon aus dem Takt bringen lässt.

Neuer Schwung bei Mercedes

Bei Mercedes verhält es sich ähnlich. Früh sind die Ex-Champions um Rekordweltmeister Lewis Hamilton in sich gegangen, haben sich selbst und alle Konzepte in Frage gestellt. Es ging nicht nur darum, das von den Fahrern dringend geforderte neue Auto zu bauen, sondern eine Plattform für ­eine grundsätzlich bessere sportliche Zukunft zu schaffen. «Unser Team ist in Schwung und brennt darauf, ein schnelleres Auto zu entwickeln – und gleichzeitig an unserer Denkweise und unseren Werten festzuhalten», sagt Stratege und Teamchef Toto Wolff. Der Österreicher glaubt sogar, dass die Schockwellen nach dem angekündigten Wechsel von Starpilot Hamilton 2025 zu Ferrari eine neue Dynamik geschaffen haben.

Das bleibt abzuwarten, aber tatsächlich bringt der grosse Coup, den Fiat-Erbe John Elkann auf dem Transfermarkt gelandet hat, die ganze PS-Branche durcheinander. Das fängt bei Ferrari an. Charles Leclerc, der gerade langfristig bei Ferrari verlängert hatte, bevor Hamiltons Wechsel bekannt wurde, will sich schon in diesem Jahr profilieren und positionieren. Natürlich geht es um die Numero uno im Team. Hamilton bekommt bei Mercedes, das so lange sein Team war, jetzt sicher nicht mehr alles mit, was er mitnehmen könnte nach Italien. George Russell rückt in den Fokus. Carlos Sainz, der als zweiter Ferrari-Pilot mitten in seinen Verhandlungen mit Teamchef Vasseur ausgebremst wurde, wird auf Stallorder keine Rücksicht mehr nehmen, er will sich für ein neues Team empfehlen. Bisher schon war er immer wieder in Hinwil ZH bei Sauber Motorsport im Hinblick auf das kommende Audi-Werksteam gehandelt worden – jetzt aber ist er auch bei Mercedes im Gespräch.

Piloten auf Arbeitssuche

Die Saison 2024 wird tatsächlich ein Jahr des grossen Vertragspokers, und mit Ausnahme von Ferrari und McLaren, wo die interessanteste und per­spektivisch vielleicht beste Fahrerpaarung langfristig gebunden ist, sind alle Rennställe beteiligt. ­Eine Art Domino: Der erste Stein ist mit dem Hamilton-Transfer gefallen. Mehr als die Hälfte der Piloten muss oder kann sich auf Arbeitssuche begeben. Das ergibt eine ganze neue Dynamik, es könnte richtig unterhaltsam werden, und die Zukunft schon in der Gegenwart für ungeahnte Spannung sorgen. Ein Wettrennen auf, aber eben auch neben der Strecke.

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Sauber: das Schweizer Team befindet sich weiter im Umbruch.

Das gilt von vorn bis hinten. Hinten ist da, wo jenseits des abgeschlagenen Haas-Rennstalls Sauber landete. Die Lackierung des neuen Namensgebers ist grelles Grün, und diese Giftigkeit braucht es auch, um unter der Regie des zurückgekehrten Technikdirektors James Key den Schritt zurück ins Mittelfeld zu schaffen, was der minimale Anspruch sein muss. Das Handicap ist aus dem letzten Jahr bekannt – der zugleich stattfindende Umbau der Rennfabrik und die Aufstockung des Personals durch den Audi-Statthalter Andreas Seidl binden natürlich Kräfte und brauchen weiter Zeit.

Sauber: Ein Schritt nach vorn


Dazu kommen immer wieder die Störfeuer aus der Audi-Konzernzentrale, einmal geht es um Personalien, einmal um das generelle Bekenntnis zum Top-Motorsport. Einfacher wird es in diesem Jahr nicht unbedingt werden, deshalb ist der sportliche Aufwärtstrend ein Muss. Valtteri Bottas, der bisher die in ihn gesetzten Hoffnungen nicht erfüllen konnte, sieht nach den Testfahrten eine Verbesserung: «Das neue Auto ist auf jeden Fall ein Schritt nach vorn.» Es geht beim C44 vor allem um die Stabilität und die Lastwechsel.

Ein richtungsweisendes Jahr liegt vor der Formel 1, und die Rekordanzahl von 24 Rennen bietet viele neue Möglichkeiten, dass sich die Kräfte verschieben, selbst wenn Red Bull durch einen – logischen – Entwicklungsvorsprung nur schwer dauerhaft von der Spitze zu vertreiben sein wird. Verstappen als den Unantastbaren zu betrachten, ist dabei nicht der richtige Ansatz. Es geht für die Her­ausforderer darum, ein neues Selbstbewusstsein zu entwickeln. So wie es Fernando Alonso und Aston Martin letztes Jahr vormachten. Die Motivation des Ex-Weltmeisters ist eher noch grösser geworden. Vertrauen in sich zu besitzen, das ist die Grundvoraussetzung für jeden Formel-1-Piloten. Aber der Abgleich mit der Realität ist das Entscheidende, und die daraus entstehende Dynamik – unabhängig davon, ob es besser oder schlechter aussieht als gedacht. Darin ist der Hattrick-Weltmeister Max Verstappen perfekt. Er besitzt die enorme Fähigkeit, sich an jede Situation sofort anzupassen und das Beste herauszuholen. Etwas, das ihn schon auf eine Stufe mit Michael Schumacher hebt. Für den Niederländer geht es also nicht nur um den vierten Titel in Serie, sondern auch um die Legendenbildung. An zusätzlicher Spannung wird es im neuen Rennjahr nicht mangeln. 

Testfahrten: Tops und Flops

Die beiden Ferrari mit Carlos Sainz und Charles Leclerc (Bild u., v.r.) waren bei den dreitägigen Tests in Bahrain von den Rundenzeiten her die schnellsten, Saubers Guanyu Zhou (Bild) war Viertschnellster. Die AUTOMOBIL REVUE hat bei den Tests noch genauer hingeschaut.

Red Bull-Honda

+ Auch der RB 20 scheint mehr denn je wie gemacht für die hohen Anforderungen von Weltmeister Max Verstappen.

– Die ungewisse Situation von Teamchef Christian Horner trägt Unruhe ins Team.

Mercedes

+ Der alte, neue Technikchef James Allison trimmt den Silberpfeil auf eine bessere Fahrbarkeit.

– Die Rivalität zwischen George Russell und Lewis Hamilton wird sicher nicht unkomplizierter werden.

Ferrari

+ Von den Zeiten her ist das rote Auto gut dabei, die Neukonstruktion war der richtige Schritt.

– Die Verpflichtung von Lewis Hamilton wirft schon ihre Schatten voraus. Charles Leclerc bereits wieder unter Druck.

McLaren-Mercedes

+ Teamchef Andrea Stella hat seine vielversprechenden Ideen aus dem Vorjahr noch einmal weiterentwickelt.

– Bislang fehlte es dem Fahrerduo an der nötigen Erfahrung, um ganz nach oben vorzustossen.

Aston Martin-Mercedes

+ Fernando Alonso traut sich im zweiten Jahr zu, endlich wieder die erste Stufe des Treppchens zu erklimmen.

– Nigelnagelneue Rennfabrik, keine Geldsorgen – jetzt muss sich nur noch die nötige Konstanz einstellen.

Alpine-Renault

+ Für Interimsteamchef Bruno Famin kann es nur besser laufen, der Franzose kann sich beweisen.

– Ist die ausufernde Rivalität der beiden französischen Fahrer tatsächlich in den Griff zu bekommen?

Williams-Mercedes

+ Die vielen Änderungen, die Teamchef James Vowles vorgenommen hat, können sich in der neuen Saison auszahlen.

– Die jahrelange Vernachlässigung der Rennfabrik lässt sich nicht einfach wettmachen.

Visa Cash App-Honda

+ Ex-Ferrari-Mann Laurent Mekies ist als neuer Teamchef wegen seiner Klasse die ersehnte Verstärkung in Faenza.

– Yuki Tsunoda muss den Durchbruch schaffen, Daniel Ricciardo steht ihm im Weg.

Sauber-Ferrari

+ Technikchef James Key verfolgt andere Upgradepläne als sein Vorgänger. Das Team wird dadurch agiler, schneller.

– Der Hinweis auf ein weiteres Übergangsjahr ist richtig, aber so droht auf Dauer der Anschluss verloren zu gehen.

Haas-Ferrari

+ Nico Hülkenberg bleibt trotz aller Rückschläge im Vorjahr der unermüdliche Antreiber beim Schlusslicht.

– Den überraschenden Abgang einer so zentralen Figur wie des Teamchefs Günther Steiner muss das Team erst verkraften.

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Der GP-Kalender 2024

2. März Bahrain (16 Uhr)

9. März Saudi-Arabien (18 Uhr)

24. März Australien (5 Uhr)

7. April Japan (7 Uhr)

21. April China (8 Uhr)*

5. Mai Miami (USA, 21.30 Uhr)*

19. Mai Emilia-Romagna (I, 15 Uhr)

26. Mai Monaco (15 Uhr)

9. Juni Kanada (20 Uhr)

23. Juni Spanien (15 Uhr)

30. Juni Österreich (15 Uhr)*

7. Juli Grossbritannien (16 Uhr)

21. Juli Ungarn (15 Uhr)

28. Juli Belgien (15 Uhr)

25. August Niederlande (15 Uhr)

1. September Italien (15 Uhr)

15. September Aserbaidschan (13 Uhr)

22. September Singapur (14 Uhr)

20. Oktober USA (21 Uhr)*

27. Oktober Mexiko (21 Uhr)

3. November Brasilien (18 Uhr)*

24. November Las Vegas (USA, 7 Uhr)

1. Dezember Katar (19 Uhr)*

8. Dezember VAE (14 Uhr)

In Klammern Startzeit MEZ; * mit Sprintrennen

Fotos: Adobe Stock, Red Bull, Mercedes, Ferrari, Aston Martin, Sauber

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