Langstrecken-WM Das erste Jahr von Nico Müller als Werkspilot von Peugeot ist vorbei. Der Berner zieht Bilanz für sich, für das Team und die Langstrecken-WM.
Nico Müller: Seit diesem Jahr Werkspilot von Peugeot in der Langstrecken-WM.
Karts ist er gefahren, später Formel- und Tourenrennwagen. Dieses Jahr wagte der 31-jährige Berner Nico Müller als Werkspilot von Peugeot den Sprung in den Langstreckenrennsport. In einer Zeit, in der die Langstrecken-WM dank eines Ansturms von Herstellern eine neue, goldene Ära erlebt. Allein beim Saisonhöhepunkt, den 24 Stunden von Le Mans (F), standen 16 Hypercars, Prototypen der neusten Generation, am Start.
AUTOMOBIL REVUE: Ihre erste Saison in der Langstrecken-WM bei den Prototypen ist vorbei. Mit welchen Gefühlen schauen Sie zurück?
Nico Müller: Mit gemischten Gefühlen. Wir bei Peugeot hatten uns erhofft, von Beginn weg an der Spitze mitfahren zu können, mussten und müssen aber noch Lehrgeld bezahlen. Dennoch, der Lernprozess geht wirklich schnell voran. Wir haben während der Saison konstant Fortschritte gemacht. Unter dem Strich hat dem Auto einfach noch Performance gefehlt. Trotzdem sind wir beispielsweise bei den 24 Stunden von Le Mans über uns hinausgewachsen. Während der Nacht und bei unterschiedlichen Wetterbedingungen habe ich das Rennen angeführt. Leider konnten wir diese Performance nicht bis zur Zielflagge halten. Ich weiss, dass dieses Team in der Langstrecken-WM erfolgreich sein kann, wenn wir das Auto wie bisher weiterentwickeln. Rückblickend bleibt mir sicher Le Mans in bester Erinnerung. Es war eine Ehre, für ein französisches Team diesen Klassiker zu fahren und dabei noch Führungskilometer zu sammeln. Insofern war dieses Premierenjahr unter dem Strich eine tolle Erfahrung.
Wie war für Sie der Umstieg von Tourenwagen auf Prototypen?
Eigentlich ist mir der Umstieg leicht gefallen. Obwohl die Autos sich äusserlich unterscheiden, sind sie sehr ähnlich zu fahren. In der Aerodynamik und im Gewicht unterscheiden sich die Hypercars nicht gross von den Class-1-Tourenwagen, die ich in der DTM gefahren bin. Anders ist hingegen der Rennablauf. Im Unterschied zu Sprintrennen musst du bei Langstreckenrennen beispielsweise noch mehr strategische Elemente berücksichtigen. Aber auch damit habe ich gelernt umzugehen.
Der Langstreckenrennsport erlebt ein Revival wie Jahrzehnte nicht mehr. Viele neue Hersteller sind dazugekommen. Gibt es einen Hype um die Hypercars aus der Sicht der Rennfahrer – oder ist es vor allem der Klassiker Le Mans, der die Fans anzieht?
Den Aufschwung der Langstrecken-WM mit Hypercars von vielen Herstellern merkt man unbestritten. Einen Hype ausgelöst und die Massen elektrisiert hat dieses Jahr aber vor allem Le Mans. Das waren unvergleichliche Renntage.
Mitte April 2023 in Portimão (P): Nico Müller im Peugeot 9X8 holt mit
Platz fünf sein bestes Resultat als Einsteiger in der Langstrecken-WM.
Mit der Herstellervielfalt ist der
Langstreckenrennsport wohl die derzeit grösste Attraktion für
Rennfahrer, junge wie alte. Gibt es ein Gedränge um die Cockpits? Mir ist es eine Ehre, dass ich in einem Hypercar
eines Werksteams sitzen darf. Das meine ich wirklich so! Denn ja, die
Langstrecken-WM und ihre Herstellervielfalt sind unter den Rennfahrern
ein Thema. Diese Cockpits sind aktuell sehr begehrt. Ich bin in einer
sehr privilegierten Situation, das ist mir absolut klar. Ich kann das
übrigens auch in Bezug auf die Formel E, eine weitere Weltmeisterschaft
des Autoweltverbandes FIA, behaupten.
Apropos: Im Langstreckenrennsport dürfte Ihre Zukunft
liegen. Wie sieht es mit der Formel E aus? Und schliesslich haben Sie
sich ja noch ein weiteres Standbein aufgebaut als Fernsehkommentator von
Formel-1-Rennen. In der Formel E bin ich weiterhin aktiv. Für mich ist
sie spannend, das Team Abt-Cupra hat die Rolle des Herausforderers. Ich
fühle mich im Team aber wohl, vor allem weil ich mit Abt beispielsweise
auch schon in der DTM zusammengearbeitet habe. Die Formel E ist eine
ganz andere Herausforderung als die Langstrecken-WM. Die Rennen sind
kurz, sie werden auf engen Stadtkursen gefahren und nicht zuletzt ist
das Level wirklich sehr hoch. Mir passt es, in diesen beiden
unterschiedlichen Wettbewerben am Start sein zu dürfen. Und mit meinem
TV-Job bin ich an der Formel 1 dran. Da werden viele schöne Erinnerungen
wach an meine Kindheit, als ich Formel-1-Rennen am TV verfolgt habe.
Zurück zur Langstrecken-WM 2023. Der fünfte Platz in
Portimão war dieses Jahr Ihr bestes Resultat. Für das Team, für Peugeot,
war es der dritte Platz in Monza. Hatte sich Peugeot als Werksteam mehr
erhofft? Natürlich hatten wir uns mehr erhofft. Ab und zu wäre
wohl auch mehr möglich gewesen. Ich erwähne wieder Le Mans, wo ich in
Führung lag. In Monza hatten wir, das Auto mit Loïc Duval, Gustavo
Menezes und mir, die Podestplatzierung vor Augen. Als Dritte auf dem
Podium standen aber Paul di Resta, Mikkel Jensen und Jean-Eric Vergne
mit dem Schwesterauto, weil wir ein technisches Problem beklagten. Ich
bin mit meiner Leistung zufrieden, und das Team darf es auch sein.
Grundsätzlich fehlt es uns eben etwas an Speed.
Mitte Juni 2023 in Le Mans: Beim Klassiker hatten die speziell lackierten Peugeot Erfolgsmomente. Nico Müller lag zeitweise sogar in Führung.
Peugeot stellte sein Hypercar früh vor und setzte es
auch ein. Andere wie Ferrari, Porsche oder Cadillac kamen erst später,
trotzdem liegen sie am Saisonende vor dem grossen Peugeot-Werk. Von
aussen betrachtet hat man den Eindruck, Peugeot sei von der Konkurrenz
überrollt worden. Zu harte Worte? Peugeot hat sich sehr früh zu diesem Projekt bekannt,
das ist richtig. Entsprechend früh wurde das Projekt lanciert. Peugeot
hatte damit auch ein Hypercar-Reglement vorliegen, das später noch ein
wenig angepasst wurde, worauf Konkurrenten, die später dazustiessen,
aber reagieren konnten. Peugeot hatte sein Projekt bereits weit
vorangetrieben und das Auto auf Allradantrieb ausgelegt, beispielsweise
mit 31-Zoll-Reifen vorne und hinten. Ich würde also nicht sagen, dass
wir überrollt wurden. Wir hatten einfach aufgrund des Reglements ein
anderes Konzept.
Weiss man bei Peugeot bereits, wo im nächsten Jahr der Hebel angesetzt werden soll? Das wissen wir sehr wohl, und wir arbeiten bereits
fleissig. Aber man muss es realistisch sehen, auch wir können nicht
innerhalb der nächsten acht bis zehn Monate alles auf den Kopf stellen.
Entscheidend ist, dass wir wissen, wohin die Entwicklung des Autos geht.
Ziel ist es, dass wir früh in der nächsten Saison an der Spitze
mitmischen können.
Trotz der Herstellervielfalt in der Langstrecken-WM,
sind Toyota und Ihr Schweizer Rennfahrerkollege Sébastien Buemi wieder
Weltmeister. Müssen die Fans langfristig auch in der Langstrecken-WM mit
einem Dominator rechnen wie in der Formel 1 – oder holen die
Toyota-Gegner auf und können vielleicht schon nächstes Jahr regelmässig
um den Sieg mitkämpfen? Fakt ist, dass Toyota bereits länger als jeder andere
Hersteller in der Topklasse der Langstrecken-WM dabei ist – und das mit
Erfolg. Toyota hat also einen Erfahrungsvorsprung. Das Reglement für
Hypercars liegt auch schon eine Weile vor, Toyota hat nach diesen
Vorgaben bereits drei Autos gebaut. Es war zu erwarten, dass Toyota
siegen würde. Aber man hat dieses Jahr gesehen, dass auch die Gegner
aufholen. Ferrari hat bereits ein Rennen gewonnen, und es war das
wichtigste überhaupt, jenes in Le Mans. Die Konkurrenz schläft nicht.
Sie lernt, und sie wird Toyota näherkommen. Ich bin überzeugt, dass die
Titel in der Langstrecken-WM in den kommenden Jahren stärker umkämpft
sein werden und dass es kein Szenario geben wird wie beispielsweise in
der Formel 1.
Bilanz der Hypercars – Zahlen und Fakten zu 14 Teams
Toyota Gazoo Racing – Toyota GR010, 3.5 Liter Turbo V6 Hybrid
Die Japaner sind ganz klar führende Hypercar-Kraft.
Langstreckenweltmeister bei den Konstrukteuren und Fahrern, unter
anderem mit dem Waadtländer Sébastien Buemi. Sechs Rennsiege, je fünf
Podestplätze und Polepositions.
Das Team aus den USA holte in der US-amerikanischen
Rennserie Imsa je drei Siege und Podiumsplätze, in der Langstrecken-WM
zwei Podeste. In beiden Serien gab es total sieben Ausfälle – kein
anderes Team fiel öfter aus.
In der US-Meisterschaft Imsa eine stolze Bilanz mit
drei Siegen und einem Podestplatz – und nur einem Ausfall. In der
Imsa-Teamwertung hinter Whelen und Taylor trotzdem nur auf dem dritten
Rang.
Ferrari AF Corse – Ferrari 499P, 3.0 Liter Turbo V6 Hybrid
In der Langstrecken-WM neben Toyota einziger
Rennsieger – dafür in Le Mans! Dazu fünf weitere Podestplatzierungen,
zwei Polepositions und nur ein Ausfall. In der Hersteller-WM weit hinter
Toyota, aber auch weit vor Porsche.
Cadillac Racing – Cadillac V-Series-R, 5.5 Liter V8 Hybrid
Eine der Enttäuschungen der Saison. Das Werksteam
holte in der US-Serie Imsa nur einen Sieg, dazu zwei Podestplätze in der
Imsa und einen in der Langstrecken-WM. In der WM Vierter, in der Imsa
gar nur Siebter.
Whelen Engineering Racing – Cadillac V-Series-R, 5.5 Liter V8 Hybrid
Die Nummer eins unter den Cadillac-Teams. In der
US-Serie Imsa Titelgewinner bei den Teams und Fahrern (Pipo Derani,
Alexander Sims). Ein Sieg und je zwei Podestplätze und Polepositions.
Kein Ausfall!
BMW M Team RLL – BMW M, 4.0 Liter Turbo V8 Hybrid
In der US-Serie Imsa nur Platz sechs bei den Teams.
Und das trotz eines Sieges und je zwei zweiten und dritten Plätzen bei
Rennen. Vier Ausfälle, mehr Ausfälle verzeichnete in der
US-Meisterschaft nur Penske.
Wayne Taylor Racing – Acura ARX 06, 2.4 Liter Turbo V6
Platz zwei in der Teamwertung der US-Meisterschaft
Imsa. Mit Blick auf dieses Klassement bestes Acura-Team, unter anderem
mit dem Genfer Louis Delétraz. Kein Rennsieg, dafür drei Podiumsplätze.
Aber auch vier Ausfälle.
In der Herstellerwertung der Langstrecken-WM nur Rang
fünf für das Team mit dem Berner Nico Müller, nur noch vor Glickenhaus
und Vanwall. Zwar nur einmal ausgefallen, aber eben auch nur einmal auf
dem Podium.
In den Wertungen der Langstrecken-WM und der US-Serie
Imsa jeweils letztes Porsche-Team. Das Debüt erfolgte spät in der
Saison. Trotzdem unter anderem mit dem Berner Neel Jani Dritter beim
Imsa-Finale in Road Atlanta.
Hertz Team Jota – Porsche 963, 4.6 Liter Turbo V8 Hybrid
In der Langstrecken-WM nicht in der
Konstrukteurswertung, aber Sieger bei den Teams – im Duell allein mit
Proton. Beste Platzierungen im Gesamtklassement waren die Ränge sechs in
Spa-Francorchamps (B) und Fuji (Japan).
In der Teamwertung der US-Meisterschaft Imsa nur auf
Rang neun. Aber das Team startete erst Mitte Mai beim vierten Lauf in
die Saison. Trotzdem reichte es noch zu je zwei vierten und fünften
Plätzen bei Rennen.
Das Team gehörte zu den ersten mit einem Hypercar. In
der Konstrukteurswertung der Langstrecken-WM Vorletzter vor Vanwall.
Wahrscheinlich 2024 nicht mehr dabei.
Floyd Vanwall Racing Team – Vanwall Vanderwell 680, 4.5 Liter V8 (Gibson)
In der Langstrecken-WM Letzter bei den Hypercars.
Drei Ausfälle bei Rennen, kein Team fiel in der Langstrecken-WM öfter
aus. Ob das Privatteam weiterfährt, wenn Alpine und Lamborghini 2024
hinzukommen, ist fraglich.