Rallye-EM – Kontinentales Hoch

Reiner Kuhn | 16.05.2024

Rallye-EM Keine andere FIA-Serie boomt so sehr wie die seit über 70 Jahren gefahrene Rallye-EM. Der spannende und spektakuläre Saisonbeginn unterstreicht dies eindrucksvoll.

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Leader der laufenden Rallye-Europameisterschaft: Haydon Paddon in einem Hyundai i20 N Rally 2 ist der Titelverteidiger.

Man reibt sich verwundert die Augen. Obwohl in der vergangenen Jubiläumssaison der seit 1953 ausgetragenen Rallye-Europameisterschaft bei den acht Läufen sieben verschiedene Fahrer siegten und dem Neuseeländer Hayden Paddon das Kunststück gelang, erstmals nach 70 Jahren den Europäern auf heimischen Boden den begehrten Titel wegzuschnappen, verspricht auch die 71. Saison der ältesten und bedeutendsten kontinentalen Meisterschaft des Autoweltverbandes FIA spektakulären Motorsport, wie die ersten beiden Saisonläufe eindrucksvoll bewiesen. Beim Auftakt in Ungarn sind 54 der insgesamt 88 gemeldeten Teams in der Rallye-EM eingeschrieben, 28 davon sind in der kontinentalen Topklasse mit den Rally-2-Kundensportmodellen von Citroën, Ford, Hyundai, Skoda, Toyota und Volkswagen dabei. Der Vielfalt gibt es aber noch mehr, sind mit Hankook, Michelin, MRF und Pirelli doch auch alle vier offiziellen Reifenpartner der Rallye-EM in der Königsklasse vertreten.

Auf den Schotterpisten rund um den ungarischen Plattensee flossen Mitte April reichlich Tränen. Auch beim zweiten Lauf auf den schnellen Asphaltsträsschen auf Gran Canaria hatten früher oder später alle nasse Augen. Aber der Reihe nach. Kurz vor dem Saisonauftakt im ungarischen Vesz­prem wird der leitende Rallyearzt zum Hotel von Mitfavorit Mads Östberg gerufen. Seit Tagen kämpft der ehemalige Werkspilot aus Norwegen mit einer schmerzhaften Lungeninfektion, muss deshalb zum zweiten Mal ins Krankenhaus und kurzfristig den Start absagen.

Sehr viel Abwechslung

Auch andere müssen leiden. Der EM-Auftakt ist noch keine drei Wertungsprüfungen alt, da sind von den 79 gestarteten Teams schon zwölf ausgeschieden, darunter der Europameister von 2022, Efren Llarena, der sich bei einem der fiesen Sprünge auf den an die Safari-Rallye erinnernden Schotterpisten den Kühler seines Skodas zerstört hat. Kaum ein Teilnehmer kommt ohne Blessuren über die extrem rauen und sandigen Pisten. Reifenschäden zählen dabei zu den kleineren Übeln. Mathieu Franceschi setzt sich an die Spitze, fährt kurz darauf seinen Skoda zweimal ins Abseits und lässt ­eine beeindruckende Aufholjagd folgen. Derweil balgen sich Mikko Heikkilä und Martins Sesks in ihren brandneuen Toyota GR Yaris Rally 2 um die Führung, dicht gefolgt von Simone Tempestini (Skoda), dem ungarischen Lokalhelden Miklos Csomos sowie Europameister Hayden Paddon (Hyundai).

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Simone Tempestini in einem Skoda Fabia RS Rally 2 gewann den 
EM-Auftakt in Ungarn.

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Yoann Bonato in einem Citroën C3 Rally 2 gewann den zweiten Lauf auf Gran Canaria.

Am Finaltag überschlagen sich die Ereignisse. Erst erwischt es den bis dahin führenden Heikkilä. In voller Fahrt bricht ein Rad, und der Toyota strandet im Gelände. Doch Markengefährt Sesks kann sich nur kurz am Platz an der Sonne erfreuen. In der vorletzten Prüfung eckt der Este an und scheidet mit gebrochenem Radträger aus. Auf der finalen Powerstage erwischt es auch noch den nun hinter Tempestini auf Rang zwei liegenden Paddon. Ein Plattfuss lässt den Neuseeländer aus den Podiumsrängen rutschen. Franceschis Aufholjagd wir mit Rang zwei belohnt, der über Crowdfunding finanzierte Lokalheld Csomos wird Dritter – und beide heulen auf dem Siegerpodest um die Wette. Ähnlich ergeht es Sieger Tempestini. Verständlich, vor zehn Jahren krönt sich der 29-jährige Italiener zum Junioren-Weltmeister, muss mangels Budget seine Träume vom Aufstieg in die zweite Klasse der Rallye-WM (WRC2) früh begraben, wird in seiner rumänischen Wahlheimat achtmal Landesmeister und feiert nun seinen ersten EM-Sieg.

Ein völlig anderes Bild bietet sich beim zweiten Lauf zur kontinentalen Topliga auf den Kanaren. Nicht nur der vom Promoter forcierte Terrainwechsel von losem Untergrund auf Festbelag sorgt für neue Spannung und reichlich Action, sondern auch die zahlreichen spanischen und französischen Asphaltspezialisten, die der etablierten EM-Elite einheizen. Von den 96 Teilnehmern starten 33 Teams mit ihren knapp 300 000 Euro teuren Rally-2-Turboallradlern in der Topklasse, darunter über ein halbes Dutzend Sieganwärter. Mit Vorjahressieger Yoann Bonato (Citroën), seinem französischen Landsmann Franceschi (Skoda) und dem 25-jährige Lokalhelden Alejandro Cachón (Toyota) setzt sich ein schnelles Trio ab. Europameister Paddon versucht ebenso an den Asphaltspezialisten dranzubleiben wie der genesene Mads Östberg oder Miklos Csomos. Doch der Ungar überspannt den Bogen und setzt seinen Skoda frontal in eine Hauswand. Andere sind gewarnt und nehmen sich zurück. So kann der durch einen Reifenschaden bis auf Rang 17 zurückgereichte Cachón mit vier weiteren von noch acht möglichen Bestzeiten an Fachkräften wie Jon Armstrong (Ford), zahlreichen Lokalkollegen sowie den Ex-Europameistern Alexey Lukyanuk (Hyundai) und Efren Llarena (Skoda) vorbeiziehen. An der Spitze machen derweil die Franzosen den Sieg unter sich aus. Nach der ersten Tagesetappe trennen Bonato und Franceschi nur drei Zehntelsekunden. Im Ziel sind es gerade einmal 2.8 Sekunden. «Zu gern hätte ich noch einen Angriff gewagt», gesteht Franceschi, aber das Risiko war einfach zu gross. «Ich muss auf die Meisterschaft schauen.» Mit zwei zweiten Plätze übernimmt der 24-Jährige nun die EM-Führung vor Paddon, der sich nach Rang vier in Ungarn nun mit Platz sechs zufriedengeben muss.

Attraktive Rallyes

Spannend geht es weiter. Auch weil der Promoter den Kalender auf den Kopf stellte. «Wir haben hart daran gearbeitet, neue Rallyes mit Traditionsveranstaltungen zu mischen und so neue Chancen zu ermöglichen», sagt EM-Manager Iain Campbell. Es folgen nach Ungarn und Spanien der im Vorjahr neu hinzugekommene Klassiker im schwedischen Värmland, danach die von der WM in die EM gewechselte Rallye Estland und die etablierten EM-Läufe bei Rom und im tschechischen Zlin. Neu ist der Endspurt, der im September mit der erst dreimal durchgeführten Rallye Ceredigion in Wales beginnt und auf die das ebenfalls neue Finale auf den holprigen und kurvenreichen Asphaltpisten in den Bergen rund um das polnische Kattowitz folgt. Fünfmal fahren die Teams bei der diesjährigen Rallye-EM auf losem Untergrund und dreimal auf Asphalt.

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Stars und Gesichter der Rallye-EM: Hayden Paddon oder der Neuseeländer, der als erster Nicht-Europäer die EM gewann.

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Stars und Gesichter der Rallye-EM: Mathieu 
Franceschi, der Franzose, der die EM derzeit anführt.

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Stars und Gesichter der Rallye-EM: Simone Tempestini, der Italiener, der nach dem Sieg beim EM-Auftakt Tränen 
vergoss.

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Stars und Gesichter der Rallye-EM: Mads Östberg, der Norweger und ehemalige WM-Werkspilot, der im hartumkämpften Titelkampf zum Favoritenkreis gehört.

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Stars und Gesichter der Rallye-EM: Der Schotte Max McRae, Sohn von Ex-Werkspilot Alister und Neffe des unvergessen Rallye-Weltmeisters Colin McRae.

Aber nicht nur die Topkategorie ist stark und breit besetzt. Die mit Rally-4-Fronttrieblern von Ford, Opel, Peugeot und Renault bei jeweils drei Schotter- und Asphaltläufen ausgefahrene Junioren-EM strotzt mit 17 Nachwuchsfahrern und -fahrerinnen aus zwölf Nationen nur so vor internationaler Konkurrenz. Verständlich, denn dem Sieger winkt der Aufstieg in die Junioren-WM im Allrad-Rally-3. Beim ersten Lauf hat Max McRae, Sohn von Ex-Werkspilot Alister und Neffe des unvergessen Weltmeisters Colin McRae die Nase vorne, auf den selektiven Asphaltpisten auf Gran Canaria dominierten die Opel-Piloten. Der Schwede Mille Johansson siegte vor seinem Landsmann Calle Carlberg und dem Deutschen Timo Schulz.

Comeback der Rallye du Valais?

Auch die Schweiz bleibt ein Thema. Schliesslich konnten sich mit Stefan Brugger, Olivier Burri, Jean-Marie Carron, Eric Chapuis, Claude Haldi, Cyril Henny, Grégoire Hotz, Christian Jacquillard, Erwin Keller, Laurent Reuche, Philippe Roux und Robert Torday in der 70-jährigen Geschichte der Rallye-Europameisterschaft bisher zwölf eidgenössische Fahrer in die Siegerliste eintragen. Dazu war die Rallye International du Valais siebenmal Teil der kontinentalen Topliga. «Wir sind im ständigen Austausch, nicht nur mit den Veranstaltern im Wallis. Ein EM-Lauf in der Schweiz hätte einen ganz besonderen Reiz», erklärt EM-Manager Campbell, verweist aber auf die vielen Anfragen. «Nie war das Interesse von Rallyeveranstaltern und Regionen grösser. Wohl auch aufgrund der neuen Vermarktung.»

So sind an einem EM-Wochenende bis zu 60 Mitarbeiter und über 30 Kameras, davon ein gutes Dutzend in den Cockpits der Topautos sowie eine an einem Helikopter im Einsatz, um jeden Wertungskilometer in Bild und Ton festzuhalten. Auf der auch bei der WM bewährten Internetplattform Rally.tv kann die Action, kompetent kommentiert, mit Hintergrundinfos und Interviews live oder zeitversetzt abgerufen werden. 

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Was die Rallye-EM auch glänzen lässt: Eine Vielfalt an Teams und 
Herstellern.

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Was die Rallye-EM auch glänzen lässt: Abwechslungsreiche Rallyes wie jene auf Asphalt in Rom.

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Was die Rallye-EM auch glänzen lässt: Neben den Topkategorien ist auch die Junioren-EM breit und attraktiv aufgestellt.

Fotos: Nico Meyer, ERC

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