Rallye-EM Keine andere FIA-Serie boomt so sehr wie die seit über 70 Jahren gefahrene Rallye-EM. Der spannende und spektakuläre Saisonbeginn unterstreicht dies eindrucksvoll.
Man reibt sich verwundert die Augen. Obwohl in der vergangenen Jubiläumssaison der seit 1953 ausgetragenen Rallye-Europameisterschaft bei den acht Läufen sieben verschiedene Fahrer siegten und dem Neuseeländer Hayden Paddon das Kunststück gelang, erstmals nach 70 Jahren den Europäern auf heimischen Boden den begehrten Titel wegzuschnappen, verspricht auch die 71. Saison der ältesten und bedeutendsten kontinentalen Meisterschaft des Autoweltverbandes FIA spektakulären Motorsport, wie die ersten beiden Saisonläufe eindrucksvoll bewiesen. Beim Auftakt in Ungarn sind 54 der insgesamt 88 gemeldeten Teams in der Rallye-EM eingeschrieben, 28 davon sind in der kontinentalen Topklasse mit den Rally-2-Kundensportmodellen von Citroën, Ford, Hyundai, Skoda, Toyota und Volkswagen dabei. Der Vielfalt gibt es aber noch mehr, sind mit Hankook, Michelin, MRF und Pirelli doch auch alle vier offiziellen Reifenpartner der Rallye-EM in der Königsklasse vertreten.
Auf den Schotterpisten rund um den ungarischen Plattensee flossen Mitte April reichlich Tränen. Auch beim zweiten Lauf auf den schnellen Asphaltsträsschen auf Gran Canaria hatten früher oder später alle nasse Augen. Aber der Reihe nach. Kurz vor dem Saisonauftakt im ungarischen Veszprem wird der leitende Rallyearzt zum Hotel von Mitfavorit Mads Östberg gerufen. Seit Tagen kämpft der ehemalige Werkspilot aus Norwegen mit einer schmerzhaften Lungeninfektion, muss deshalb zum zweiten Mal ins Krankenhaus und kurzfristig den Start absagen.
Sehr viel Abwechslung
Auch andere müssen leiden. Der EM-Auftakt ist noch keine drei Wertungsprüfungen alt, da sind von den 79 gestarteten Teams schon zwölf ausgeschieden, darunter der Europameister von 2022, Efren Llarena, der sich bei einem der fiesen Sprünge auf den an die Safari-Rallye erinnernden Schotterpisten den Kühler seines Skodas zerstört hat. Kaum ein Teilnehmer kommt ohne Blessuren über die extrem rauen und sandigen Pisten. Reifenschäden zählen dabei zu den kleineren Übeln. Mathieu Franceschi setzt sich an die Spitze, fährt kurz darauf seinen Skoda zweimal ins Abseits und lässt eine beeindruckende Aufholjagd folgen. Derweil balgen sich Mikko Heikkilä und Martins Sesks in ihren brandneuen Toyota GR Yaris Rally 2 um die Führung, dicht gefolgt von Simone Tempestini (Skoda), dem ungarischen Lokalhelden Miklos Csomos sowie Europameister Hayden Paddon (Hyundai).
Am Finaltag überschlagen sich die Ereignisse. Erst
erwischt es den bis dahin führenden Heikkilä. In voller Fahrt bricht ein
Rad, und der Toyota strandet im Gelände. Doch Markengefährt Sesks kann
sich nur kurz am Platz an der Sonne erfreuen. In der vorletzten Prüfung
eckt der Este an und scheidet mit gebrochenem Radträger aus. Auf der
finalen Powerstage erwischt es auch noch den nun hinter Tempestini auf
Rang zwei liegenden Paddon. Ein Plattfuss lässt den Neuseeländer aus den
Podiumsrängen rutschen. Franceschis Aufholjagd wir mit Rang zwei
belohnt, der über Crowdfunding finanzierte Lokalheld Csomos wird Dritter
– und beide heulen auf dem Siegerpodest um die Wette. Ähnlich ergeht es
Sieger Tempestini. Verständlich, vor zehn Jahren krönt sich der
29-jährige Italiener zum Junioren-Weltmeister, muss mangels Budget seine
Träume vom Aufstieg in die zweite Klasse der Rallye-WM (WRC2) früh
begraben, wird in seiner rumänischen Wahlheimat achtmal Landesmeister
und feiert nun seinen ersten EM-Sieg.
Ein völlig anderes Bild bietet sich beim zweiten Lauf
zur kontinentalen Topliga auf den Kanaren. Nicht nur der vom Promoter
forcierte Terrainwechsel von losem Untergrund auf Festbelag sorgt für
neue Spannung und reichlich Action, sondern auch die zahlreichen
spanischen und französischen Asphaltspezialisten, die der etablierten
EM-Elite einheizen. Von den 96 Teilnehmern starten 33 Teams mit ihren
knapp 300 000 Euro teuren Rally-2-Turboallradlern in der Topklasse,
darunter über ein halbes Dutzend Sieganwärter. Mit Vorjahressieger Yoann
Bonato (Citroën), seinem französischen Landsmann Franceschi (Skoda) und
dem 25-jährige Lokalhelden Alejandro Cachón (Toyota) setzt sich ein
schnelles Trio ab. Europameister Paddon versucht ebenso an den
Asphaltspezialisten dranzubleiben wie der genesene Mads Östberg oder
Miklos Csomos. Doch der Ungar überspannt den Bogen und setzt seinen
Skoda frontal in eine Hauswand. Andere sind gewarnt und nehmen sich
zurück. So kann der durch einen Reifenschaden bis auf Rang 17
zurückgereichte Cachón mit vier weiteren von noch acht möglichen
Bestzeiten an Fachkräften wie Jon Armstrong (Ford), zahlreichen
Lokalkollegen sowie den Ex-Europameistern Alexey Lukyanuk (Hyundai) und
Efren Llarena (Skoda) vorbeiziehen. An der Spitze machen derweil die
Franzosen den Sieg unter sich aus. Nach der ersten Tagesetappe trennen
Bonato und Franceschi nur drei Zehntelsekunden. Im Ziel sind es gerade
einmal 2.8 Sekunden. «Zu gern hätte ich noch einen Angriff gewagt»,
gesteht Franceschi, aber das Risiko war einfach zu gross. «Ich muss auf
die Meisterschaft schauen.» Mit zwei zweiten Plätze übernimmt der
24-Jährige nun die EM-Führung vor Paddon, der sich nach Rang vier in
Ungarn nun mit Platz sechs zufriedengeben muss.
Attraktive Rallyes
Spannend geht es weiter. Auch weil der Promoter den
Kalender auf den Kopf stellte. «Wir haben hart daran gearbeitet, neue
Rallyes mit Traditionsveranstaltungen zu mischen und so neue Chancen zu
ermöglichen», sagt EM-Manager Iain Campbell. Es folgen nach Ungarn und
Spanien der im Vorjahr neu hinzugekommene Klassiker im schwedischen
Värmland, danach die von der WM in die EM gewechselte Rallye Estland und
die etablierten EM-Läufe bei Rom und im tschechischen Zlin. Neu ist der
Endspurt, der im September mit der erst dreimal durchgeführten Rallye
Ceredigion in Wales beginnt und auf die das ebenfalls neue Finale auf
den holprigen und kurvenreichen Asphaltpisten in den Bergen rund um das
polnische Kattowitz folgt. Fünfmal fahren die Teams bei der diesjährigen
Rallye-EM auf losem Untergrund und dreimal auf Asphalt.
Aber nicht nur die Topkategorie ist stark und breit
besetzt. Die mit Rally-4-Fronttrieblern von Ford, Opel, Peugeot und
Renault bei jeweils drei Schotter- und Asphaltläufen ausgefahrene
Junioren-EM strotzt mit 17 Nachwuchsfahrern und -fahrerinnen aus zwölf
Nationen nur so vor internationaler Konkurrenz. Verständlich, denn dem
Sieger winkt der Aufstieg in die Junioren-WM im Allrad-Rally-3. Beim
ersten Lauf hat Max McRae, Sohn von Ex-Werkspilot Alister und Neffe des
unvergessen Weltmeisters Colin McRae die Nase vorne, auf den selektiven
Asphaltpisten auf Gran Canaria dominierten die Opel-Piloten. Der Schwede
Mille Johansson siegte vor seinem Landsmann Calle Carlberg und dem
Deutschen Timo Schulz.
Comeback der Rallye du Valais?
Auch die Schweiz bleibt ein Thema. Schliesslich konnten
sich mit Stefan Brugger, Olivier Burri, Jean-Marie Carron, Eric
Chapuis, Claude Haldi, Cyril Henny, Grégoire Hotz, Christian
Jacquillard, Erwin Keller, Laurent Reuche, Philippe Roux und Robert
Torday in der 70-jährigen Geschichte der Rallye-Europameisterschaft
bisher zwölf eidgenössische Fahrer in die Siegerliste eintragen. Dazu
war die Rallye International du Valais siebenmal Teil der kontinentalen
Topliga. «Wir sind im ständigen Austausch, nicht nur mit den
Veranstaltern im Wallis. Ein EM-Lauf in der Schweiz hätte einen ganz
besonderen Reiz», erklärt EM-Manager Campbell, verweist aber auf die
vielen Anfragen. «Nie war das Interesse von Rallyeveranstaltern und
Regionen grösser. Wohl auch aufgrund der neuen Vermarktung.»
So sind an einem EM-Wochenende bis zu 60 Mitarbeiter
und über 30 Kameras, davon ein gutes Dutzend in den Cockpits der
Topautos sowie eine an einem Helikopter im Einsatz, um jeden
Wertungskilometer in Bild und Ton festzuhalten. Auf der auch bei der WM
bewährten Internetplattform Rally.tv kann die Action, kompetent
kommentiert, mit Hintergrundinfos und Interviews live oder zeitversetzt
abgerufen werden.