Euro-NCAP – Stern für Stern mehr Sicherheit

Martin Sigrist | 10.05.2024

Euro-NCAP Die ­europäische Instanz in Sachen Fahrzeugsicherheit fordert wieder mehr Tasten. Doch wer ist das Euro-NCAP, und was kann es bewirken?

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Seit 1997 segeln die ehemals national organisierten Institutionen, die sich um die Sicherheit von Automobilen kümmern, unter einem gemeinsamen, europäischen Stern. Das European New Car Assessment Programme (Euro-NCAP) ist ein konsumentenschutzorientiertes Institut zur Sicherheitsbewertung von Personenwagen. Bei der Vergabe der bekannten Sterne, maximal fünf sind möglich, kommen einheitliche Bewertungskriterien für alle Hersteller zur Anwendung, ohne dass die Beurteilung durch nationale Präferenzen oder Ähnliches beeinflusst wird.

Der Hauptfokus des Euro-NCAP lag zu Beginn auf der Frontalkollision, der häufigsten Unfallform. Dabei wurden die Testfahrzeuge mit ­einem Überdeckungsgrad von 40 Prozent mit 64 km/h gegen eine starre Barriere gefahren, um die passive Sicherheit für die Insassen zu prüfen. Diese Versuche wurden mit zwei sogenannten 50-Prozent-Dummys ausgeführt, also einer Testpuppe, die der 50er-Perzentile des europäischen Mannes entspricht: 175 Zentimeter gross und 78 Kilogramm schwer. Dazu kamen Dummys eines sechs und eines zehn Jahre alten Kindes. Seit 2015 jedoch gibt es auch Crashtests mit zwei Frauen-Dummys von 1.52 Metern Grösse und einem Gewicht von 54 Kilogramm. Dann wird das Testauto gegen ­eine Barriere in der vollen Wagenbreite gefahren. 2020 aber änderte Euro-NCAP das Verfahren und crasht seither die Probanden mit 50 km/h gegen ­eine bewegliche Barriere mit Prallelement und ­einer Überdeckung von 50 Prozent. Damit soll eruiert werden, wie das Testfahrzeug seine Energie auch auf Kosten des Gegners abbaut.

Die Frontalkollisionstests ergänzen solche für den Seiten- und den Heckaufprall. Dabei haben sich die Anforderungen entsprechend den Fortschritten im Autobau laufend verändert. Längst prüft Euro-NCAP nicht mehr nur die passive Sicherheit für die Insassen, sondern auch jene für Fussgänger, insbesondere auch für Kinder. So beschreibt das Programm heute vier Bereiche, in denen geprüft und gemessen wird: Insassenschutz, Kindersicherheit, Schutz von Dritten, also ungeschützten Verkehrsteilnehmern wie Fussgängern oder Velofahrern und, entsprechend der stetigen Fortschritte in diesem Bereich, Assistenzsysteme. Einfach formuliert, könnte ein Auto, das 1997 noch mit Bestnoten abschnitt, heute vermutlich keinen einzigen Stern mehr für sich gewinnen.

Dabei gilt es auch zu beachten, dass die Euro-NCAP-Resultate nicht in direkter Verbindung mit der Homologation von Autos stehen müssen. Denn wie die Organisation betont, ist es durchaus möglich, dass ein für den europäischen Markt zugelassenes Auto keinen einzigen Stern erhält. Denn diesen gibt es erst, wenn Resultate deutlich jenseits der verlangten Minimalanforderungen erzielt werden. Euro-NCAP ist also keine Instanz, sondern nur eine Bewertung und eine Hilfe für Konsumenten bei der Wahl eines möglichst sicheren Fahrzeugs. Wie bereits beschrieben, ergibt es darum Sinn, dass die Prüfkriterien laufend dem aktuellen Fahrzeugmarkt angepasst werden, wenn unter den neusten Modellen ein aussagekräftiger Vergleich stattfinden soll.

Vermeiden der Kollision

Der Einbezug von Assistenzsystemen in die Beurteilung von Automodellen erfolgt laut Aussagen von Euro-NCAP entsprechend deren Verbreitung in den aktuellen Modellportfolios der Hersteller. Damit richtet sich die Bewertung der Fahrhilfen und Warnsysteme nicht nach einer möglichst umfangreichen Ausrüstungsliste eines Modells, sondern nach dem durchschnittlichen Vorhandensein im Serienumfang moderner Autos und natürlich nach deren Funktion.


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Die laufend um neue Sicherheitsmerkmale (im Bild Mittel-Airbags) ergänzten Bewertungskriterien des Euro-NCAP sind für die Industrie ein wichtiger Richtwert. Oft werden sie später Vorschrift.

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Der Prüf-Dummy des 50-Prozent-Mannes erhielt im Euro-NCAP längst Gesellschaft durch Dummys einer Frau und von Kindern.

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Von Euro-NCAP wurde der Tesla Model Y einst mit fünf Sternen bewertet. Wird die Bedienung mitberücksichtigt, droht ein Abzug.

Seit 2016 bilden Assistenten einen Teil des Testumfangs, 2020 wurden in die Versuche und Bewertungskriterien auch Situationen beim Rückwärtsfahren integriert, also Fussgängererkennung oder Querverkehrswarner zum Beispiel. Auch Systeme, die vorerst nur gegen Aufpreis erhältlich sind, werden miteinbezogen, wenn ihre zunehmende Verbreitung absehbar ist. Jüngere Beispiele dafür sind Müdigkeitswarner oder – wenn der Unfall nicht abgewendet werden konnte – ein automatisches Notrufsystem, die E-Call-Funktion. Für die Rettungskräfte beurteilt Euro-NCAP auch die möglichst einfache Bergung der Fahrzeuginsassen.

Empfehlungen werden Vorschrift

Wie Euro-NCAP in einem Grundlagenpapier formuliert, ist eines der Ziele, die Sicherheitsausrüstung zu bewerten und deren standardmässigen Einbau durch die Automobilindustrie zu fördern. Damit empfiehlt das Euro-NCAP, was dereinst bei der Homologation von Neuwagen in der EU zur Pflicht werden soll. Ein Beispiel dafür ist die Verschärfung der Verordnung über die allgemeine Sicherheit von Fahrzeugen (GSR, Vehicle General Safety Regula­tion) der EU per 7. Juli 2022 für neue Personenwagen, die seither mit einem Rückwärts-Warnsystem, einem Aufmerksamkeitswarner oder auch einem adaptiven Tempomaten ausgerüstet sein müssen. Per Juli 2024 werden diese um einen erweiterten Aufmerksamkeitswarner ergänzt, die Einbaupflicht für zusätzliche Assistenten wie etwa Alkohol-Detektoren oder Spurhalteassistenten steht zur Diskussion.

Ablenkung als Unfallursache

Auch die Touchscreen-Bedienung ist ein Thema. Diese tauchte bereits einmal in den 1980er-Jahren auf, der Buick Riviera von 1986 war mit einer veritablen Bildschirmröhre zur Kontrolle der Klimaanlage ausgestattet, mangels Nachfrage verschwand das Feature aber im darauffolgenden Modelljahr. Mittlerweile haben Screens jedoch durch die laufende Verbilligung der Flachbildschirme im 21. Jahrhundert im Auto Einzug gefunden. Gemeinhin gilt Tesla als erster Hersteller, der radikal auf die Nutzung des Bildschirms für fast alle Funktionen des Wagens setzte. Diesem Beispiel folgten die meisten Hersteller. Während im Katalog die stattlichen Bildschirmdiagonalen womöglich noch Eindruck machen, werden sie im Testbetrieb der AR hingegen oft als wenig bedienerfreundlich taxiert. Mannigfaltige Menüs und Untermenüs bedeuten eine Gefahr durch Ablenkung, im Gegensatz dazu sind Handregler für grundlegende Funktionen wie die Audioanlage und die Klimatisation oft selbstsprechend und lassen sich zielgerichtet auch während der Fahrt bedienen. Aus diesem Grund wird Euro-NCAP ab Januar 2026 nur noch Autos mit fünf Sternen auszeichnen, wenn mindestens fünf essenzielle Funktionen mit konventionellen Tasten oder Lenkstockhebeln zu bedienen sind: Blinker, Warnblinker, Hupe, Scheibenwischer und Notruf. Obwohl die NCAP-Bewertung kein Gebot für die Autoindustrie darstellt, hat der Entscheid Tragweite. Denn mit der Auszeichnung für hervorragende Fahrzeugsicherheit lassen sich Autos besser verkaufen. Doch nicht allein die verschärften Bewertungskriterien animieren die Autohersteller dazu, ihre Bedienkonzepte zu überdenken. Die Kundschaft selbst hat sie in gewissen Fällen bereits dazu gebracht. Ein gutes Beispiel ist Volkswagen, wo man sich nach massiver Kundenkritik wieder zurückbesinnt.

Dass nun erneut die Fahrzeugbedienung in den Fokus von Sicherheitsgedanken rückt, ist einigermassen erstaunlich, denn ausgerechnet damit wurde manchem Autokäufer in den 1950er- und 1960er-Jahren gewahr, dass nicht nur ästhetische Gründe für die Form eines Autos ausschlaggebend sind. Nach gepolsterten Armaturenbrettern und versenkten Lenkradnaben waren es die Knöpfe am Armaturenbrett, die flacher wurden, um im Fall ­eines Aufpralls das Verletzungsrisiko zu mindern. Ein schönes Beispiel dafür ist der Bristol 401, der als Avantgarde-Automobil mit Luftfahrthintergrund bereits ab 1949 über gewisse Sicherheitsmerkmale verfügte. Dazu gehören die zahlreichen und über die ganze Breite verteilten, flachen Knöpfe in einem Armaturenbrett aus Wurzelholz. 

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Der Ersatz von Schaltern (im Bild ein Volvo 850) durch Bildschirme spart Herstellungskosten.

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Flache Knöpfe für mehr Sicherheit im Bristol 401. Die Qualität von ­Schaltern und Armaturen stand einst für die Qualität des ganzen Wagens.

Fotos: Euro-NCAP, Lorenzo Fulvi, Vesa Eskola

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