Der Traum vom ­Wasserstoff

Olivier Derard | 11.07.2024

Von der Rennstrecke auf die Strasse In den neuen Regeln für Le Mans ab 2027 wird Wasserstoff als sauberer Kraftstoff angepriesen, der nicht nur in Brennstoffzellen, sondern auch in Verbrennungsmotoren verwendet werden kann.

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Das 24-Stunden-Rennen von Le Mans (F) feierte 2024 seinen 101. Geburtstag. Diese Langlebigkeit ist auf den Mythos zurückzuführen, der das Ausdauer­rennen umgibt. Dieser Mythos wird gespeist durch die Schwierigkeiten, denen die Teilnehmer ausgesetzt sind, den Widrigkeiten, die sie an ihre Grenzen bringen und sie dazu anspornen, neue Technologien zu entwickeln. So wurden die Nebelscheinwerfer (1926), der Einspritzmotor (1952), die Scheibenbremsen (1953) und der Hybridantrieb (1998) für Le Mans erfunden. «Das 24-Stunden-Rennen war immer aktiv an der Entwicklung neuer Technologien beteiligt, die früher oder später unter der Motorhaube der Autos von Monsieur Tout le Monde landeten», erinnert sich Pierre Fillon, der Präsident des Automobile Club de l’Ouest (ACO). Heute steht die Automobilindustrie vor einer der grössten Herausforderungen ihrer Geschichte, nämlich der Dekarbonisierung. Das gilt auch für den Motorsport. «Wir müssen mit gutem Beispiel vorangehen», sagt Pierre Fillon. Aber wie? Wie kann man den Motorsport vollständig dekarbonisieren, noch dazu, wenn es sich um ein Ausdauerrennen wie die 24 Stunden von Le Mans handelt? «Wir haben darüber nachgedacht, auf Elektrofahrzeuge umzusteigen. Aber wir haben schnell gemerkt, dass das nicht möglich wäre. Niemand möchte eine Ausgabe des 24-Stunden-Rennens von Le Mans, bei der die Autos oft und lange an der Box anhalten, um ihre Batterien aufzuladen», erklärt Fillon. Und er fährt fort: «Das hat uns schnell zum Wasserstoff gebracht. Und das aus gutem Grund: Eine Brennstoffzelle spuckt nur Wasser aus. Und der wasserstoffbetriebene Verbrennungsmotor stösst kein einziges Gramm CO2 aus.» Vorausgesetzt natürlich, dass der Wasserstoff aus erneuerbaren Energien hergestellt wird.

Zeithorizont 2027

«Mit dieser Feststellung haben wir 2017 unser zukünftiges Reglement entworfen, das die Einführung von Wasserstoff in Le Mans im Jahr 2024 vorsah. In der Zwischenzeit gab es Covid, was unsere Pläne etwas durchkreuzt und den Termin verschoben hat», erklärt Fillon. Er spricht nun von 2026 oder, was wahrscheinlicher ist, 2027. Das ist das Jahr, in dem das Reglement für die aktuelle Hypercarklasse ausläuft. Wasserstoff wird also ein integraler Bestandteil des Reglements für die Nachkommen der aktuellen Hypercars sein. Aber Vorsicht: Er wird das Benzin nicht vollständig ersetzen. «Das Ziel ist, dass Wasserstoffautos neben den aktuellen LMH und LMDh antreten können. Die Idee ist, eine gleichwertige Technologie zu haben, die es ihnen ermöglicht, von der gleichen Leistung zu profitieren und um den Sieg in der Gesamtwertung zu fahren», sagt Fillon.

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Alpine ist bereits in der WEC und wird 2027 in die ­Wasserstoffkategorie einsteigen – mit einem Fahrzeug, das Gerüchten zufolge auch in Serie gehen soll.

«Als wir 2017 über diesen Kraftstoff sprachen, standen wir allein und mussten daher Überzeugungsarbeit leisten, dass diese Technologie eine Zukunft hat», fährt der Präsident fort. Heute mache Wasserstoff wieder mehr von sich reden, mehr Menschen interessierten sich dafür. Wenn man Toyota und Alpine mit einbeziehe, die bereits offiziell ihr Interesse an diesem Kraftstoff bekundet hätten, gebe es insgesamt nicht weniger als acht Hersteller, die von Wasserstoff fasziniert seien. Aber wer sind diese sechs anderen Marken? Der ACO-Chef möchte sie nicht ausdrücklich erwähnen und hält sich bedeckt, erklärt aber, dass sie von überall auf der Welt kämen und dass es sich um sehr «schöne Marken» handle, wie Fillon rätselhaft anmerkt. Das ist nicht verwunderlich. Schliesslich wäre es für Sportwagenhersteller wie Porsche oder Ferrari ein Fehler, die Wasserstofftechnologie nicht ernst zu nehmen, da sie ein Interesse daran haben, ihre Flat-Six- und V12-Motoren zu behalten, um sie weiterhin in ihren sportlichem Fahrzeugen einsetzen zu können. Denn genau darum geht es hier. Wie die Technologien von einst soll auch Wasserstoff in Serienfahrzeugen vermarktet werden. Aber natürlich nur, wenn er sich im 24-Stunden-Rennen bewährt. Auch hierbei handelt es sich nur um eine Hypothese, möglicherweise gehört BMW zu den interessierten Herstellern. Die Bayern haben sich bereits Mitte der 2000er-Jahre mit dem Hydrogen 7, einem Prototyp auf der Grundlage ­eines 7ers mit V12-Motor mit thermischem Wasserstoff befasst. Auch koreanische Hersteller wie Hyundai könnten mit im Boot sein. Cyril Abite­boul, Präsident von Hyundai Motorsport und Teamchef, bestätigte, dass die Marke «verschiedene Kategorien erkundet» und «ihre Ambitionen in der WEC klar zum Ausdruck bringen» wolle.

Zweites Projekt: Brennstoffzelle

Der ACO wird in Le Mans das Reglement für zwei Wasserstofftechnologien öffnen. Zum einen wird es den wasserstoffbetriebenen Verbrennungsmotor geben und zum anderen die Brennstoffzelle. «Auch hier geht es darum, dass Le Mans seinen Status als Autolabor behält. Deshalb erschien es uns in diesem Prozess der Vorbereitung der Mobilität von morgen interessant, den Herstellern den Zugang zu beiden Technologien zu ermöglichen», sagt Fillon. Es ist bereits bekannt, dass Alpine und Toyota auf den Verbrennungsmotor setzen, aber es ist noch nicht klar, wer sich für die Brennstoffzelle entscheiden wird. Sicher ist jedoch, dass diese Hersteller vor denselben Herausforderungen stehen werden wie der ACO, der die Brennstoffzellentechnologie bei seinen Demonstrationsfahrzeugen eingesetzt hat. «Bisher wurden zwei Prototypen von Rennwagen mit den Bezeichnungen LMPH2G und H24 gebaut, beide auf der Basis von LMP3-Chassis», erklärt Bassel Aslan, technischer Direktor des ACO-Programms Mission H24. «H24 Evo ist der dritte Prototyp, der auf einem neuen,vollständig an die Wasserstofftechnologie angepassten Chassis basiert.»

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Toyota ist im Langstreckensport nicht wegzudenken und wird sich 2027 in der Wasserstoffkategorie der Hypercarklasse engagieren.

Diese Autos funktionieren nach dem gleichen Prinzip. «Eine Brennstoffzelle entnimmt Wasserstoff aus einem Drucktank. Dieser wird in Elek­trizität umgewandelt, die entweder eine Pufferbatterie oder direkt die elektrischen Motoren, die die Räder antreiben, speist», erklärt der Ingenieur. In der neuesten Version des ACO-Prototyps kann die Brennstoffzelle bis zu 200 kW an Momentanleistung liefern. Die so erzeugte Elektrizität kann auf zwei verschiedene Arten genutzt werden: entweder direkt an den Rädern, wenn hohe Leistung benötigt wird, oder über den Umweg der Batteriespeicher. Die Batterie kann ihrerseits bis zu 350 kW zusätzlich an die Räder abgeben. Zusammen kommen die Pufferbatterie und die Brennstoffzelle im alten H24-Prototypen kurzzeitig zu einer Leistung von bis zu 550 kW. Die Batteriekapazität beträgt laut Aslan «zwischen drei und fünf Kilowattstunden», wichtig ist auch die Lufttemperatur. Die Kühlung der Batterie hängt von der Temperatur der Umgebungsluft und der Geschwindigkeit des Fahrzeugs ab. Unter günstigen Bedingungen kann die Batterie 20 Sekunden lang belastet werden, während sie bei heissem Wetter nur fünf Sekunden lang ihr volles Potenzial entfalten kann.

Technische Herausforderungen

Eine der grössten Herausforderungen ist die sichere Speicherung des Wasserstoffs im Auto. «Für unseren zukünftigen Prototypen H24 Evo arbeiten wir an Schutzelementen, mit denen der Tank bei einem Unfall besser geschützt werden kann.» Obwohl ein Wasserstofftank kein zerbrechliches Teil ist, sondern eher robust und steif mit einer vier bis fünf Zentimetern dicken Wand aus Verbundwerkstoffen, gibt es noch Verbesserungsbedarf, damit es bei einem Aufprall nicht zu Problemen kommt. Acht Hersteller arbeiten in einer Arbeitsgruppe zusammen, um diese Sicherheitsherausforderung zu bewältigen. Natürlich muss bei all dem darauf geachtet werden, dass das Gewicht des Tanks nicht zu stark ansteigt. «Wir streben ein Tankgewicht von knapp unter 100 Kilogramm im Leerzustand an. Die Masse des Fahrzeugs wird bei maximal 1300 Kilogramm liegen», fügt Aslan hinzu.

Der ACO hat mehrere Prototypen mit Brennstoffzellenantrieb entwickelt: Den LMPH2G aus dem Jahr 2018 (o. l. ), den H24 von 2021 (u. l. ) und demnächst den H24 Evo (r.).

Eine weitere Entwicklungsaufgabe, die die Ingenieure bis 2027 meistern müssen, ist die Kühlung der Brennstoffzelle. Die Kühlung muss optimiert werden, damit die Zelle effizienter arbeitet. Ausserdem muss die Zelle selbst besser in das Fahrgestell integriert werden. Ausserdem muss darauf geachtet werden, wie sich angesichts der veränderten technischen Fahrzeugarchitektur das Gewicht im Auto verteilt. Und dann ist da noch die Frage, wie das Betanken mit Wasserstoff in der Boxengasse erfolgen wird. «Im Rennbetrieb und beim Tanken sind die Tanks grossen Temperaturschwankungen ausgesetzt. Auch diese Parameter müssen wir beherrschen», warnt der Technikexperte.

Das Wasserstoffprogramm von Le Mans wird auch die Schaffung einer völlig neuen Energiekette erfordern, die den Bedarf an grünem Strom decken wird – der Einsatz erneuerbarer Energie ist für jeden, der grünen Wasserstoff herstellen möchte, obligatorisch, alles andere wäre Greenwashing. In diesem Umwandlungsprozess werden auch Anlagen zur Wasserelektrolyse und Logistikunternehmen einbezogen, die den Transport des Kraftstoffs der Zukunft bis zur Station an der Rennstrecke ermöglichen. So werden nicht nur die Automobilhersteller gefordert sein. Aber wenn man es genau nimmt, ist das alles gar nicht so neu. «Schon in den 1920er-Jahren wurden Asphaltunternehmen eingeladen, um ihre Produkte für den Strassenbelag zu demonstrieren. Und in Le Mans wurden auch die ersten Bodenmarkierungen entwickelt», erinnert sich Pierre Fillon. Ja, auch wenn sich die Herausforderungen weiterentwickeln und die Technologien komplizierter werden, wiederholt sich die Geschichte immer wieder. 

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Hersteller und ACO müssen bis 2027, dem Jahr, in dem Wasserstoff in Le Mans eingesetzt werden soll, noch viel Entwicklungsarbeit leisten.

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