Schikanen im Verkehr zum Wundern und Staunen

Martin Sigrist und Jean-Claude Schertenleib | 23.11.2023

Neugestaltung Nicht jede Verkehrs­führung ist gleich gut ­gelungen. Oft ­beschleicht einen das dumpfe 
Gefühl, sie sei nicht zu Ende ­gedacht worden.

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Beispiel Rüschlikon am Zürichsee: Zwar weniger Markierungen, aber auch weniger Klarheit.

Erleben Sie es auch so? In vielen Fällen zeigt sich nach der Erneuerung des Strassenbelags oder nach der Neuausschilderung eines Abschnitts eine neue Strassenmarkierung. Blumentöpfe und andere Hindernisse säumen den Strassenrand, ragen in die Fahrbahn hinein oder stehen gar auf ihr. Manchmal ist es aber auch umgekehrt: Statt neuer Markierungen gibt es gleich gar keine mehr, weder Mittel- noch Leitlinien helfen bei Dunkelheit und schwieriger Witterung. Wenn dann auch noch die Strassenbeleuchtung aus allerlei hehren Gründen um 22 Uhr ausgeschaltet wird, herrscht schwarze, orientierungslose Eintönigkeit, selbst im Lichtkegel der modernsten LED-Matrixscheinwerfer.

Gewiss, hinter den meisten dieser Massnahmen steckt das Ziel, das Tempo in Ortschaften zu reduzieren, meistens gelingt das sogar. Also Ziel erreicht! Nun, nicht ganz. Denn die Art und Weise, wie das geschieht, ist manchmal mehr als fragwürdig. In einigen Fällen fragt man sich gar, ob all das herumstehende Strassenmobiliar von Inseln, Verengungen, Markierungen und mehr nicht einfach eine Trotzreaktion darauf ist, dass dort keine Tempo-30-Zone realisierbar war. Fest steht aber, dass diese Massnahmen Geld kosten. So viel Geld wie es meist auch gekostet hätte, wann man in der Gemeinde einfach akzeptiert hätte, dass innerorts gemeinhin Tempo 50 gilt und der Verkehr tatsächlich auch in diesem Tempo daherkommen könnte. Dann gäbe es beispielsweise statt keiner Markierungen – und sie waren einst da, mit ziemlich sicherer Garantie – womöglich beleuchtete Fussgängerstreifen oder, noch besser, beleuchtete Trottoirränder. Da, wo Fussgänger gelegentlich auch nachts darauf warten, die Strasse zu überqueren, wäre der Sicherheit genauso oder besser gedient.

Am Zürichsee: Weniger ist – weniger

Auf der Seestrasse am linken Ufer des Zürichsees gilt zwischen der Stadtgrenze von Zürich und Horgen seit 1. November 2021 Tempo 50 statt Tempo 60. Die Zürcher Kantonspolizei nahm diese Temporeduktion mit der entsprechenden Umschilderung im Auftrag der Planungsgruppe Zimmerberg vor. Diese setzt sich aus Vertretern der Zürcher Seegemeinden Kilchberg, Rüschlikon, Thalwil, Oberrieden und Horgen zusammen.

Die Seestrasse ist noch immer auch ein Teil der Hauptstrasse Nummer 3, die von Maloja GR nahe der Grenze zu Italien über den Julier, durch das Churer Rheintal, den Walensee entlang und durch die Linthebene zum Zürichsee, durch die Stadt Zürich nach Baden und Brugg im Kanton Aargau und über den Belchen bis nach Basel führt. Sie war einst eine der wichtigen Hauptverkehrsachsen der Schweiz, so wie es die H1 von Kreuzlingen TG nach Genf oder die H2 von Basel-St. Louis über den Gotthard bis nach Chiasso TI waren. Auch wenn sie heute nurmehr lokal oder regional von Bedeutung sind, gilt es anzumerken, dass die ehemaligen Schweizer Hauptstrassen bis zum heutigen Tag über einen grosszügigen Ausbaustandard und eine für Schweizer Verhältnisse sehr unkompromittierte Linienführung verfügen. Manche dieser Strassen und deren Verlauf wurden bereits vor der Gründung des Schweizer Bundesstaates 1848 geplant und festgelegt.

Noch vor der Eröffnung der Autobahn N3, der heutigen A3, entlang des Zimmerbergs am Zürichsee im Jahr 1966 entschärfte man in den Dörfern an der bisherigen Route die gröbsten Hindernisse, in Horgen etwa wurde mit dem Bau des Zentrums Schinzenhof der Dorfplatz quasi über die Strasse verlegt. Damit ist die Fahrbahn der heutigen Seestrasse verhältnismässig breit, sie umfährt zudem die meisten Ortskerne zwischen Zürich und Horgen. Und die meisten ihrer Abschnitte sind von ­einem Radstreifen gesäumt.

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Weg damit: Mit der Reduktion des Tempos von 60 auf 50 km/h verschwanden in Rüschlikon die Einspurstrecken.

Nun aber dachten findige Geister offenbar, dass mit der Temporeduktion auch eine Neuordnung der Platzverhältnisse einhergehen müsse – mit mehr Platz für Zweiräder und weniger Platz für den restlichen Verkehr. In erstaunlich kurzer Zeit – wenn man vergleicht, wie lange es dauert, bis heikle Fussgängerstreifen entschärft werden – zeigte sich in Rüschlikon der Velostreifen deutlich zur Fahrbahnmitte hin versetzt. In einem Mass, das nach einer Erneuerung der gesamten Strassenmarkierung verlangte. Für Velofahrer sollte das Geradeausfahren in den seltensten Fällen ein Problem darstellen, heikle Situationen ergeben sich aber beim Linksabbiegen. In Rüschlikon gab es vor der Neumarkierung zu diesem Zweck zwar schmale, aber deutlich markierte Abbiegespuren, etwa bei der Einmündung der Dorf- in die Seestrasse. An der Dorfstrasse liegen das Sekundarschulhaus und die Sporthalle Gulliver, durchaus ein Ziel so mancher Velofahrt. Jetzt sind die Spurpfeile, die auch eine Hilfe für das korrekte Abbiegen mit dem Zweirad waren – Seitenblick, Handzeichen, Einspuren und Warten in der Strassenmitte bei Gegenverkehr –, verschwunden. Und auch der vorbeifahrende Verkehr, der immerhin nur noch mit 50 statt 60 km/h unterwegs ist, wird nicht mehr durch Pfeile am Boden zum Rechtshalten bei Geradeausfahrt aufgefordert. Dadurch wurde die Situa­tion gerade für die schwächsten Verkehrsteilnehmer verschlechtert – ein Ausdruck von zu kurzem Nachdenken.

Neuenburg: Gymkhana am Bahnhof

Nein, das ist nicht der Titel des neusten Bahnhofromans – was durchaus eine Idee wäre –, sondern steht dafür, was Autofahrer in Neuenburg erleben, die die Schwiegermutter und den Schwiegervater am Bahnhof abholen und später dahin zurückbringen wollen. Mitte des Jahres führte die Stadt ein neues Verkehrs- und Parkplatzregime ein, «um die Sicherheit und die Qualität des öffentlichen Raums zu verbessern und den Fussgängern Vorrang einzuräumen». In der offiziellen Pressemitteilung heisst es: «Diese Konfiguration wird ein Jahr lang getestet.» Dass solche provisorische Lösungen meist ewig anhalten, ist seit Langem bekannt ...

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Bahnhofplatz Neuenburg: Wo einst das Ein- und Aussteigenlassen reibungslos funktionierte, gibt es nun eine Begegnungszone – in der man nur in einer Richtung fahren darf!

Wie sieht das in der Praxis aus? Wenn Sie den Haupteingang des Bahnhofs Neuenburg erreichen wollen, vergessen Sie den Weg, den Sie vielleicht kannten. Wo Sie früher von der Taxiecke zum Eingang weiterfahren konnten, versperrt Ihnen jetzt ein Einbahnschild den Weg. Und die Taxifahrer, die ihre Autos auf den wenigen, für sie reservierten Plätzen abgestellt haben, haben keinen Grund, Ihnen ein Geschenk zu machen – sie bezahlen viel Geld für ihr Privileg. Dann eben in die Tiefgarage zu Ihrer Linken! Doch die ist leider oft besetzt, und die Plätze sind so eng, dass Ihre liebe Schwiegermama und der Schwiegerpapa gar nicht erst aus Ihrer Limousine herauskommen.

Also wenden Sie leicht entnervt, fahren mehrere Hundert Meter um den ganzen Bahnhof herum, unterqueren dabei zweimal die Gleise und gelangen durch eine sehr schmale Strasse zwischen schwindelerregend hohen Mauern zur Rue du Crêt-Taconnex. Hier beginnt die Begegnungszone mit Tempo 20 und Vortritt für die Fussgänger – was die Stadt Neuenburg allerdings nicht daran hinderte, zur Sicherheit noch zwei Bodenschwellen anzubringen. Das wars, Sie sind auf der Place de la Gare angekommen, kaum hundert Meter vom Ausgangspunkt entfernt. Allerdings gibt es auch hier keine Parkplätze mehr, ausser in einem zweiten unterirdischen Parking. Die letzten fünf oberirdisch erhaltenen Plätze sind für Post-Kunden reserviert. Aber immerhin haben Sie nach einem amüsanten und kurzweiligen Slalom durch diesen neu gewonnenen Lebensraum die lang ersehnte Ein- und Ausladezone (fr. Dépose rapide!) erreicht. Wenn Sie Glück haben, ist sie nicht durch ein anderes Fahrzeug blockiert. Und kommen Sie ja nicht auf die Idee, Ihr Auto für ein paar Minuten zu verlassen!

Endlich können Schwiegervater und Schwiegermutter in aller Ruhe zum Zug gehen. Aber Sie als Automobilist, der vergessen hat, noch Brot oder sonst eine Kleinigkeit zu kaufen, die ebenfalls ein wenig zum Umsatz des Bahnhofshoppings beiträgt, müssen jetzt eine weitere Runde durch dieses Neuenburger Bahnhof-Gymkhana drehen. Wir wünschen viel Vergnügen! 

Lesen Sie dazu das Editorial von Chefredaktor Simon Tottoli.

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Posse in Neuenburg: Wenn bereits jemand ein- oder aussteigt, ist die Schnell-Ausstiegs-Zone für nachfolgende Fahrzeuge blockiert.

Fotos: Martin Sigrist, Jean-Claude Schertenleib

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