Der wahre Keil

Peter Ruch | 28.03.2024

ERFAHRUNG Der Aston Martin Lagonda
ist schon ein ausser­gewöhnliches Automobil. Und dann gibt es noch diesen Shooting Brake, ein in der Schweiz 
von Roos Engineering gebautes Einzelstück.

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Lilly heisst Lilly, weil ihr Besitzer, der auch der Auftraggeber für den Umbau des Aston Martin Lagonda zum Shooting Brake war, eine Tochter gleichen Namens hat. Wie auch immer, Lilly, also das Automobil, nicht die Tochter, steht bei uns im Unterstand – und springt nicht an. Sie tut dies auch nicht, als ihr Mastermind und Erbauer Beat Roos mit dem Booster-Pack und reichlich Werkzeug anrückt. Erst als der Lagonda eine Nacht in der schön warmen Garage verbringen durfte, springt er ohne weitere Zicken einfach wieder an. Gleich auf die erste Drehung mit dem Zündschlüssel.

Schön selten

Das Bewegen eines Aston Martin Lagonda ist schon aussergewöhnlich. Nicht deshalb, weil im Zeitraum zwischen Herbst 1974 und Sommer 1989 nur gerade 645 Stück entstanden, das Fahrzeug also ziemlich selten ist. Doch der Wagen ist riesig, 5.30 Meter lang, abgesehen von einigen wenigen Amerikanern gab es kaum etwas auf den europäischen Strassen, das mehr Platz beanspruchte. Das Fahren ist von einer wunderbaren Gediegenheit. Die Sitze sind tief, eher Fauteuils, Seitenhalt war in den 1970er-Jahren noch nicht wirklich ein Thema in der automobilen Oberklasse. Platz ist vorne mehr als reichlich vorhanden, hinten staunt man heute, dass es bei über 2.90 Metern Radstand nicht etwas grosszügiger sein konnte. Wobei die Beine gut Platz finden, es mangelt eher an Kopffreiheit. Kofferraumvolumen gab es schon bei der Limousine viel, bei unserem Shooting Brake ist es selbstverständlich noch besser. Und was beim Kombi richtig gut ist: die Übersicht nach hinten, man kann ihn zentimetergenau parkieren, auch ohne die modernen Piepser. Beim Blick nach vorne allerdings hilft die stark abfallende, ewig lange Motorhaube nicht. Bei den ersten Versuchen lässt man mindestens noch anderthalb Meter frei. So richtig in den Griff bekommen haben wir die Länge auch nach drei Tagen und viel Manövrieren nicht.

Was wir auch nicht verstanden haben: das Mäusekino. In der zweiten Serie gab es LED-Anzeigen, die ihrer Zeit viel zu weit voraus waren, ab der dritten Serie wurden sie durch Kathodenröhren ersetzt, die aber auch nie richtig funktionierten. Auch wenn Roos Engineering bei Lilly das Wunder geschafft hat, dass alles so leuchtet und bimmelt und plaudert, wie es sich die Erfinder ausgedacht haben, ist es am Schluss doch unglaublich kleinteilig. Man kann die Anzeigen kaum lesen, die Schalter sind wild verstreut und entsprechend unlogisch verteilt, man spielt wie auf einer Ukulele, die aber eigentlich gerne ein Klavier wäre. Irgendwann haben wir aufgegeben, auch nur schon die vorderen Seitenfenster elektrisch öffnen zu wollen. Nicht weil es nicht geklappt hätte, aber das Suchen nach dem Schalter war ermüdend. Die Sprachausgabe immerhin funktionierte, wenn auch nur auf Englisch. Gemäss Aussage des Spezialisten grenzt aber das schon an ein Wunder.

Digitale Anzeigen

Andererseits muss man dieses Innenleben auch in einen zeitlichen Zusammenhang stellen. Als der Lagonda nach langer Vorlaufzeit ab Herbst 1978 endlich für etwas unter 50 000 Pfund zu kaufen war, hatte Rolls-Royce nur den definitiv veralteten Silver Shadow als Konkurrenz zu bieten, auch Bentley war damals nicht gerade auf einem Höhenflug. Und sah innen im Vergleich zum Lagonda auch aus wie aus einem anderen Jahrhundert.

Egal, er fährt ganz gut. Für damalige Verhältnisse fuhr er ausgezeichnet, besser als jeder Mercedes und BMW und Rolls-Royce und Jaguar. Er fährt sich auch heute noch ganz gut. Nein, das stimmt jetzt auch nicht. Für einen 300 PS starken 5.3-Liter-Achtzylinder fährt er sich eher mit aller Ruhe. Man hat das Gefühl, dass etwa 51 Prozent der Leistung irgendwo in der Dreigang-Automatik von Chrysler versanden. Ein heftiger Tritt auf das Fahrpedal führt einzig zum GTN-Effekt, also zu «gas­oline to noise». Benzin wird in erster Linie in Lärm verwandelt, nicht unbedingt in Vortrieb. Klar ist das Jammern auf hohem Niveau und definitiv auch den Fahrleistungen aktueller Automobile geschuldet. Damals, von Mitte der 1970er- bis Anfang der 1990er-Jahre, galt der Lagonda als fast schon feurig.

Fast schon feurig

Und er gleitet halt ganz herrlich. Der Komfort wurde von den Konstrukteuren sicher höher gewichtet als die Sportlichkeit, der Lagonda war ja aber auch als ultimativer Gran Turismo gedacht. Auch die Lenkung war sicher eher bedienerfreundlich als auch nur ansatzweise präzis. Und so rollt man dann friedlich einher, man stresst am besten weder Motor noch den Piloten, die Automatik will ab etwa 5 km/h schon in den höchsten Gang schalten und dort auch gerne verbleiben, bis der Lagonda wieder in der Garage abgestellt wird. Dieses Verhalten sorgt für eine wunderbare Ruhe, sowohl akustisch wie auch im Geist. Doch es gibt ja reichlich Drehmoment, ein Verkehrshindernis ist man sicher nie. Das sportliche Durcheilen von Kurven gehört trotzdem nicht zu den ganz grossen Stärken des Engländers.

Schönheit, so sagt man, liege im Auge des Betrachters. Was William Towns – wie man liest, innerhalb eines Monats – mit dem Lagonda auf die vier Räder stellte, ist eine der extremsten automobilen Keilformen nach dem Lancia Stratos Zero von Marcello Gandini aus dem Jahr 1970. Sie kam in den 1970er-Jahren in Mode, war aber eigentlich auf Sportwagen beschränkt. Towns schaffte als einziger den grossartigen Spagat hin zum Viertürer, der Lagonda blieb eine kleine Ewigkeit die flachste Limousine der Welt. Und Roos Engineering verwandelte den Lagonda schliesslich in den endgültigen, den wahren Keil, vorne flach, hinten (relativ) hoch. Das muss man nicht mögen – aber man kann. «Leichenwagen», hört man oft sagen, aber das ist definitiv zu kurz gegriffen, so sehen Lilly nur Menschen, die nicht genau hinschauen. Sie ist, unter anderem, nämlich dunkelblau.

Keil mit vier Türen

Das vom Werk zertifizierte Exemplar von Roos Engineering, also Lilly, ist in noch so mancher Hinsicht ein Meisterwerk. Allein schon das Dach, fast drei Meter lang und wie aus einem Stück, darf als Kunstwerk betrachtet werden, eine solche Alufläche gibt es in der Automobilgeschichte kein zweites Mal. Und die Hecktür, selbstverständlich automatisch verriegelnd, darf als Geniestreich betrachtet werden. Auch wenn der Mechanismus und der Anschnitt ins Dach von einem Honda inspiriert wurden. Doch auf diese Lösung muss man zuerst einmal kommen – und sie fügt sich wunderbar in das elegante Heck ein. Das Ziel, die Linien des Entwurfs von William Towns grundsätzlich nicht zu verändern, weil sie ja nicht zu verbessern waren, haben Beat Roos und sein Team auf jeden Fall erreicht.

Kein einziges Teil des Spenderfahrzeugs, eines Series 3, blieb bei dem Umbau unberührt. Das gesamte Innenleben wurde von Grund auf neu geschaffen. Dabei konnten auch gleich viele der Elektronikprobleme, welche die Lagonda immer plagten, ausgemerzt werden. Das revolutionäre Cockpit funktioniert, auch die Sitzverstellung tut, was man von ihr verlangt. Der Kofferraum ist selbstverständlich passend zum restlichen Innenraum ausgekleidet, das ist einmal mehr Handwerk vom Feinsten. Nicht bloss die hinteren Scheiben wurden von den besten Spezialisten auf Mass angefertigt, auch die Teppiche sind Massarbeit. Und so schön tief, wie man das von einem englischen Luxusprodukt erwartet.

Welches Baujahr?

Man muss tatsächlich mit etwas Selbstbewusstsein ausgestattet sein, wenn man mit einem Lagonda und ganz besonders mit Lilly ausfährt. Wohl noch selten wurden wir so oft angesprochen auf ein Auto, mehr als einmal drehte ein Automobilist um und fuhr uns nach, um dann neugierig zu fragen, um was es sich denn hierbei handle. Beim Fotografieren blieben immer wieder Menschen stehen und zückten ihre Handys, erkundigten sich nach Marke und Modell. Wir fragten dann jeweils gerne zurück, auf welches Baujahr sie das Fahrzeug schätzen würden – es lagen eigentlich alle deutlich daneben. Manche meinten gar, es handle sich beim Engländer um ein aktuelles Fahrzeug.

Fotos: Frédéric Diserens/radical-mag.com

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